Hallo, Gott.
»Los«, stieg die ungeduldige Stimme Bensons, des Managers, zu ihm herauf.
Er trat hinaus.
Die Doppelrolle war sehr leicht. Man hatte dafür viel mehr Zeit als vom vier Meter-Brett aus. Aber er hatte sich noch nie vorher durch einen so langen Fall steif gehalten. Er begann sich einzurollen, sowie seine Zehen das Wasser berührten. Im nächsten Augenblick war er nach vorn geglitten und landete schräg mit der rechten Hinterbacke auf Grund. Er setzte zwar hart, aber nicht zu hart auf. Dann richtete er sich auf, saß blasenwerfend und grinsend da, stieß sich von dem Zementboden ab und schoß an die Oberfläche.
Kein Mensch schien beeindruckt zu sein, aber nach zwei Übungstagen begann er an der Show teilzunehmen, zweimal täglich.
Der andere neue Mann, der Jensen hieß, erwies sich als prachtvoller Taucher, ein ehemaliger Angehöriger der Universitätsmannschaften in Exeter und in Brown. Er studierte Schriftstellerei an der Universität von Iowa und war unbezahlter Bühnenautor an einem nahegelegenen Provinztheater. Er gab Adam den Tip für eine billige Pension, wo sich in der Nacht Mäuse, laut wie Löwen, herumtrieben und es auch sonst noch Lärm und Balgereien gab, aber die Matratze war in Ordnung. Das gute Wetter hielt an, ebenso seine Nerven. Ein Mädchen vom Wasserballett mit wunderschönen Brüsten begann mit ihm zu liebäugeln, und er machte Pläne, sie an seinen Busen und vice versa zu nehmen. Er führte lange Gespräche über Eliot und Pound mit Jensen, mit dem er sich vielleicht befreunden würde. Er tauchte wie eine Maschine und dachte viel darüber nach, was er anfangen würde, wenn er als ungeheuer reicher Mann an die Schule zurückkehrte.
Die Geschichten über Unglücksfälle erschienen ihm wie Fabeln. Am fünften Tag jedoch krümmte sich Jensen zu früh zusammen und landete auf dem Rücken im Becken. Als er auftauchte, war er weiß vor Schmerzen, konnte jedoch noch weggehen und sich selbst ein Taxi rufen, das ihn ins Krankenhaus brachte. Er kam nie wieder zu der Show zurück. Als Adam im Krankenhaus anrief, hieß es, sein Zustand sei ganz gut und er sei zur Beobachtung aufgenommen worden. Der nächste Tag war grau, aber ohne Regen, der Wind rüttelte an der Leiter und die Plattform schwankte. Die hoch oben stehen, werden von vielen Windstößen erschüttert. Shakespeare. Adam machte seine zwei Sprünge ohne Zwischenfall und war am nächsten Morgen erleichtert, daß die Sonne herausgekommen und der Wind verschwunden war. Am gleichen Abend machte er seinen ersten Sprung, fast ohne über ihn nachzudenken. In der zweiten Show erkletterte er die Leiter und stand im gelben Licht der großen Scheinwerfer auf der Plattform. Weit draußen im Meer enthüllten ihm die Lichter eines Fischdampfers dessen geheimnisvolle, ferne Anwesenheit, und die Lichter der Seepromenade lagen wie verstreute Juwelen in langer Reihe vor ihm.
Du gottverdammter Narr, sagte er sich.
Er hatte keine Angst. Aber plötzlich wußte er, daß er nicht springen würde. Das Geld, das er in diesem Sommer verdienen konnte, wäre nichts wert, wenn er sich derart verletzte, daß es ihn als Arzt beeinträchtigen oder verhindern würde, Chirurg zu werden. Es war sinnlos.
Er drehte sich um und begann die Leiter hinunterzuklet-tern.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte Benson über das Mikrophon. »Wollen Sie, daß jemand hinaufkommt und Ihnen hinunterhilft?« Wie Insektengeräusch drang das Summen der Menge zu ihm herauf.
Er blieb stehen und machte ein Zeichen, daß er in Ordnung war und keine Hilfe brauchte, aber das zwang ihn, zum erstenmal direkt hinunterzuschauen, und plötzlich war ihm durchaus nicht wohl. Er kletterte sehr vorsichtig weiter abwärts. Er hatte den halben Weg noch nicht hinter sich, als die Buh-Schreie und das Höhnen begann; es waren viele junge Leute im Publikum.
Benson war wütend, als Adam den Boden erreichte.
»Sind Sie krank, Silverstone?«
»Nein.«
»Zum Teufel, dann gehen Sie wieder hinauf. Jeder bekommt hie und da einmal Angst. Man wird Ihnen mehr Beifall spenden als sonst, wenn Sie wieder hinaufgehen und tauchen.«
»Nein.«
»Sie werden nie wieder beruflich tauchen, Sie gelber kleiner Judenbastard, das versprech' ich Ihnen!«
»Danke sehr«, sagte Adam höflich, und er meinte es ehrlich.
Am nächsten Morgen nahm er den Bus nach Philadelphia zurück. Tags darauf ging er in das Krankenhaus, um als chirurgischer Techniker zu arbeiten, ein Posten, der ihm viele Erfahrungen im Operationssaal vermittelte.
Drei Wochen vor Beginn des Herbstsemesters las er eine Notiz auf der Anschlagtafel der Medizinischen Schule.
Wenn Sie sich für Anatomie interessieren
und Geld brauchen, habe ich vielleicht eine Stellung
für Sie.
Wenden Sie sich an das Büro des amtl. Leichenbeschauers
Dr. med. Gerald M. Lobsenz Medical Examiner Philadelphia County, Pennsylvania.
Das Bezirks-Leichenschauhaus war ein altes dreistöckiges Steingebäude, das dringend einen Verputz nötig gehabt hätte, das Büro des Leichenbeschauers ein angeräumtes, staubiges Raritätenkabinett im ersten Stock. Ein mageres Negermädchen saß hinter einem Schreibtisch und klapperte auf der Schreibmaschine. »Ja?«
»Ich möchte bitte Dr. Lobsenz sprechen.«
Ohne im Tippen innezuhalten, deutete das Mädchen mit dem Kopf auf einen Mann in Hemdsärmeln hinter einem Schreibtisch im Hintergrund des Zimmers.
»Setzen Sie sich«, sagte er. Er kaute an einer Zigarre, die ausgegangen war, und schrieb in einem Verzeichnis der Sektionsfälle. Adam saß auf einem Holzstuhl mit gerader Lehne und schaute um sich. Die Schreibtische, die sonstigen Tischflächen und die Fensterbretter waren mit zum Teil bereits vergilbten Büchern und Papieren beladen. Eine Buntnessel leuchtete in einem billigen rosa Plastikbehälter. Daneben stand ein kleiner Zweig voll absterbender Blätter,
den Adam nicht identifizieren konnte und dessen trockene Wurzeln verzweifelt nach einem Zoll trüben Wassers auf dem Grund einer Laborretorte aus Pyrex angelten. Eine Whiskeyflasche, halbvoll, mit einem Schildchen, stand auf einem Bücherstapel. Auf dem Boden abgetretenes, nacktes Linoleum. Die Fenster waren schmutzig und vorhanglos.
»Sie wünschen?«
Dr. Lobsenz hatte verblichene, aber durchdringende blaue Augen. Sein Haar war grau. Er war schlecht rasiert, und sein weißes Hemd sah nicht mehr ganz frisch aus.
»Ich habe Ihre Notiz in der Schule gelesen. Ich bewerbe mich um den Posten.«
Dr. Lobsenz seufzte. »Sie sind der fünfte Bewerber. Wie heißen Sie?«
Adam sagte es ihm.
»Ich habe eine kleine Arbeit vor. Wollen Sie mitkommen? Ich interviewe Sie unterwegs.«
»Ja«, sagte Adam. Er wunderte sich, warum das Negermädchen grinste, während es ohne aufzublicken auf seiner Maschine dahinhämmerte.
Dr. Lobsenz führte ihn ins Kellergeschoß, zwei Dutzend Stufen tief, und die Temperatur sank um mindestens ebenso viele Grade.
Auf Tischen und Tragen lagen Leichen, einige mit Tüchern bedeckt, einige nicht. Sie blieben bei der Leiche eines alten mageren und abgezehrten Mannes mit sehr schmutzigen Füßen stehen. Lobsenz wies mit der kalten Zigarre auf die Augen. »Sehen Sie den weißen Ring in der Hornhaut?Arcus senilis. Bemerken Sie die Schwellung in der Tiefe der Brust? Das ist Altersemphysem.« Er drehte sich um und sah Adam an. »Werden Sie sich an diese Dinge erinnern, wenn Sie sie das nächste Mal sehen?«
»Ja.«
»Hm. Möglich.«
Er ging zu einer der Laden entlang der Wand, zog sie auf und blickte auf den darinliegenden Toten. »Verbrennungstod. Ungefähr fünfundvierzig Jahre alt. Sehen Sie die rosa Farbe? Zwei Ursachen. Erstens Kälte, zweitens Karbonmon-oxyd im Blut. Wann immer Rauch oder gelbbrennende Flamme vorhanden ist, ist auch Karbonmonoxyd vorhanden.«
»Wie ist er gestorben?«
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