»Wohnungsbrand. Ging hinein, seine Mutter suchen. Alles, was man je von ihr fand, konnte von der übrigen Asche nicht unterschieden werden.«
Er führte Adam zu einem Lift und nahm ihn schweigend in den dritten Stock mit.
»Noch immer an der Stellung interessiert?«
»Worin besteht die Arbeit?«
»Sich um sie kümmern.« Er deutete mit dem Kopf zu dem kalten Kellerspeicher hinunter.
»Gut«, sagte Adam.
»Und bei Obduktionen assistieren. Haben Sie je einer Obduktion beigewohnt?«
»Nein.«
Er folgte Lobsenz in einen weißgekachelten Raum. Auf dem weißen Seziertisch lag eine winzige Gestalt, eine Puppe, dachte er, und erkannte dann, daß es ein farbiges Baby war, höchstens ein Jahr alt.
»Tot im Kinderbett gefunden. Weiß nicht, warum sie starb. Tausende Kinder tun uns das jedes Jahr an. Eines der Geheimnisse. Der verdammte Narr von einem jungen Hausarzt machte Mund-zu-Mund-Beatmung bei ihr, bis er es aufgab. Wartete einen Tag und geriet dann allmählich in Panik, als ihm klar wurde, daß sie vielleicht an irgend etwas Ansteckendem gestorben sein konnte. Hepatitis, Tb, wer weiß. Geschähe ihm recht, wenn wir etwas fänden, der Dummkopf.«
Er schob die Hände in die Handschuhe, lockerte die Finger, nahm dann ein Skalpell und machte einen Schnitt, der von jeder Schulter zum Brustbein und dann zum Bauch hinunter verlief. »In Europa macht man das in einer geraden Linie vom Kinn abwärts. Wir ziehen das Y vor.« Die braune Lederhaut teilte sich magisch, darunter lag eine gelbe Schicht, Babyfett, dachte Adam etwas vorschnell, und darunter weißes Gewebe.
»Man muß sich immer vor Augen halten«, sagte Lobsenz nicht unfreundlich, »daß das kein Fleisch ist. Das ist kein menschliches Wesen mehr. Was einen Körper zu einem Menschen macht, ist Leben, Persönlichkeit, die göttliche Seele. Die Seele ist aus diesem Käfig fortgegangen. Was übrigbleibt ist Ton, eine Art plastischen Materials, von einem höchst tüchtigen Hersteller erzeugt.«
Während er sprach, forschten die behandschuhten Hände, das Skalpell schnitt auf, er entnahm Proben, hier ein Stückchen, dort ein Klümpchen, ein Teilchen von diesem, eine kleine Schnitte von jenem. »Die Leber ist wunderschön. Haben Sie je eine hübschere Leber gesehen? Bei Hepatitis wäre sie geschwollen, wahrscheinlich mit Blutungsflecken. Sieht auch nicht nach Tuberkulose aus. Der Dummkopf hat Glück.«
Er ließ die Proben für Laboruntersuchungen in irdene Töpfe fallen, legte alles wieder in die Höhlung zurück und nähte den Brustschnitt zu.
Es hat mir überhaupt nichts ausgemacht, dachte Adam. Ist das alles?
Lobsenz führte ihn die Halle hinunter in einen weiteren Sezierraum, fast ein Duplikat des ersten. »Wenn wir es ei-lig haben, richtet der Famulus den einen Raum her, während ich in dem anderen arbeite«, erklärte er. Auf dem Tisch lag eine alte Frau, verbrauchter Körper, schlaffe Zitzen, verrunzeltes Gesicht: Mein Gott, mit einem Lächeln. Die Arme waren über der Brust gefaltet. Lobsenz entfaltete sie, ächzend vor Anstrengung. »Die Lehrbücher erzählen einem, daß derrigor mortis in den Kiefern beginnt und sich schön ordentlich den Körper hinunter fortsetzt. Lassen Sie sich von mir gesagt sein: so ist es nie.«
Als sie offen war, duftete sie nicht gerade nach Rosen. Adam hielt die Kiefer fest zusammengepreßt -rigor vitae -, atmete so sparsam wie möglich und spürte, wie sich sein Bauch unter seinem leeren Magen zusammenkrampf-te. Wer hielt Speien für ein großes Vergnügen? Samuel Butler. Ich werde mir dieses Vergnügen nicht gönnen, sagte er sich energisch.
Schließlich nähte Lobsenz die Brust wieder zu.
Als sie in das Büro zurückkehrten, nahm der amtliche Leichenbeschauer zwei zerkratzte Schnapsgläser aus der Mittellade seines Schreibtischs und goß Adam und sich aus der Whiskeyflasche mit dem Schildchen puren Schnaps ein. Die Aufschrift lautete »Probe Nummer Zwei - Elliot Johnson«. Sie gossen den Whiskey hinunter.
»Muß aufs Klo«, sagte Lobsenz und nahm einen Schlüssel von einem Nagel an der Wand.
Als er hinausgegangen war, sagte das magere Mädchen ohne von der Schreibmaschine aufzublicken: »Er wird Ihnen ein Zimmer und monatlich fünfundsiebzig bieten. Nehmen Sie den Job nicht unter hundert. Er wird Ihnen sagen, daß er andere Kandidaten hat, aber es war nur ein Bewerber da, der sich während der Obduktion erbrach.« Die Tasten klapperten weiter. »Er ist ein phantastischer Bursche, aber voller Tricks«, sagte sie.
Dr. Lobsenz kam händereibend zurück. »Nun, was meinen Sie? Wollen Sie den Job? Sie können hier mehr über den menschlichen Körper lernen als in vier Medizinischen Schulen. Ich unterrichte Sie, während wir arbeiten.«
»Gut«, sagte Adam.
»Wir haben ein gutes Zimmer für Sie hier. Fünfundsiebzig Dollar monatlich.«
»Das Zimmer und hundert Dollar.«
Lobsenz' Lächeln verschwand. Er blickte mißtrauisch zu dem Mädchen hinter dem Schreibtisch hinüber, das weitertippte. »Ich habe andere Bewerber.«
Vielleicht war es der Schnaps, der gerade jetzt seinen Magen wie eine Faust traf; er hatte das Gefühl, daß sein Kopf riesengroß wie ein Ballon in der Luft schwebte. »Doktor, in einigen Monaten werde ich verhungern, wenn ich nicht sofort Arbeit bekomme. Wenn es nicht so wäre, würde ich diese schöne Stellung hier nicht mit einem nassen Fetzen anrühren.«
Lobsenz sah ihn an und lächelte plötzlich. »Los, kommen Sie, Silverstone. Ich lade Sie zum Mittagessen ein«, sagte er.
Das Zimmer im zweiten Stock mit der Milchglastür sah von außen wie ein Büro aus, aber es enthielt ein Bett und einen Schreibtisch. Die Laken konnten gewechselt werden, sooft er wollte; er konnte die Dienste der Bezirkswäscherei für seine persönlichen Bedürfnisse in Anspruch nehmen, eine wunderbare Zulage, die Dr. Lobsenz zu erwähnen vergessen hatte. Reinheit des Körpers wurde schon immer als eine Folge von Gottesfurcht erachtet. Francis Bacon.
Die Aufgaben waren für einen, der zwei Jahre medizinischer Schulung hinter sich hatte, nicht schwer. Anfangs störten ihn die Gerüche noch sehr, und er haßte das Kratzen der Säge, wenn sie sich durch einen Schädel biß. Aber Lobsenz unterrichtete während seiner Arbeit, und er war ein guter Lehrer. Im ersten Jahr der Medizinischen Schule hatte Adam in einem Anatomielabor einen konservierten Kadaver namens Cora mit sechs anderen Studenten geteilt. Als er Cora erbte, waren ihre Teile und Organe bis zur Unkenntlichkeit zerschnitten und untersucht. Jetzt hielt er die Augen offen und hörte Lobsenz aufmerksam zu, der sich sichtlich über sein Interesse freute, aber brummte, daß er eigentlich für den Unterricht bezahlt werden sollte. Insgeheim war auch Adam davon überzeugt; es war ein erstklassiger Privatunterricht in Anatomie.
Anfangs waren die Nächte schlimm. Das Nachttelephon stand in seinem Zimmer. Von sieben bis acht Uhr dreißig telephonierten Leichenbestatter, um die fünfunddreißig Dollar einzutreiben, die ihnen die Bezirksverwaltung jedesmal zahlte, wenn sie eine Leiche, um die sich niemand kümmerte, formlos in einer gewöhnlichen Holzkiste bestatteten; es war der gleiche Preis, den Benson für zwei Sprünge vom Turm gezahlt hatte.
In der ersten Nacht nahm er die Anrufe der Leichenbestatter entgegen, studierte zwei Stunden, richtete seinen Wecker, legte sich nieder, schlief ein und träumte vom Tauchen.
Als er erwachte, lachte er sich in der Dunkelheit aus. Typisch für einen Narren, wie ihn: während der Arbeit am Sprungturm war ihm alles egal gewesen, aber jetzt zitterte er in seinem Bett vor dem, was hätte geschehen können.
In der zweiten Nacht sprach er mit den Leichenbestattern am Telephon, studierte bis nach Mitternacht, richtete den Wecker, drehte das Licht ab und lag hellwach in der Dunkelheit.
Er zählte Schafe, kam bis sechsundfünfzig, bis sich jedes Schaf in eine Leiche verwandelte, die langsam über das Drehkreuz schwebte, während er sie abzählte. Er zählte von hinten, begann bei hundert und erreichte zweimal die Eins ohne das geringste Anzeichen von Schlaf, während seine Augen die Dunkelheit um ihn durchforschten.
Читать дальше