»Ich fürchte, ich muß einmal verschwinden«, sagte sie. »Macht es Ihnen etwas aus, zu warten?«
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag das Regent, ein drittklassiges Hotel, und er lächelte sie bewundernd an.
»Aber gar nicht«, sagte er.
Während sie in der Damentoilette war, nahm er ein Zimmer. Der Portier nickte uninteressiert, als er sagte, daß ihr Gepäck vom Flughafen Logan nachkommen würde. Als sie in die kleine Halle zurückkam, nahm Adam sie am Ellbogen und führte sie sanft zum Lift. Sie sprachen nicht. Sie hielt den Kopf hoch und starrte vor sich hin. Als er die Tür des Zimmers Nr. 314 hinter sich geschlossen hatte, wandte er sich ihr zu, und sie sahen einander an.
»Ich habe vergessen, den Handschuh mitzubringen.«
Später schlief sie, während er neben ihr in dem überheizten Zimmer lag und rauchte, und schließlich erwachte sie und sah, daß er sie beobachtete. Sie streckte die Hand aus, nahm ihm die Zigarette aus den Lippen, zerdrückte sie sorgfältig in dem Aschenbecher neben dem Bett, dann wandte sie sich ihm zu, und das Ritual begann von neuem, während sich draußen das graue Licht verdunkelte.
Um fünf Uhr stieg sie aus dem Bett und begann sich anzukleiden.
»Muß das sein?«
»Es ist fast Zeit fürs Abendessen.«
»Wir können hinuntertelephonieren. Ich würde aber liebend gern darauf verzichten.«
»Ich habe einen kleinen Jungen zu Hause«, sagte sie. »Er muß gefüttert und zu Bett gebracht werden.«
»Oh.«
Sie kam im Unterkleid zu ihm, setzte sich auf das Bett und küßte ihn. »Warte hier auf mich«, sagte sie. »Ich komme zurück.«
»Gut.«
Als sie gegangen war, versuchte er zu schlafen, konnte aber nicht atmen, das Zimmer war zu heiß. Es roch nach
Samen, nach Zigarettenrauch und nach ihr. Er öffnete ein Fenster und ließ die arktisch kalte Luft herein, dann zog er sich an, ging hinunter und bestellte ein Sandwich, das er gar nicht wollte, und eine Tasse Kaffee, ging zum Copley Square, setzte sich in die öffentliche Leihbücherei und las alte Exemplare derSaturday Review.
Als er um acht Uhr zurückging, war sie bereits da, unter der Bettdecke. Das Fenster war geschlossen, und es war wieder zu heiß. Die Lampen waren abgedreht, aber das Hotelschild vor dem Fenster blinkte, und wenn es aufblitzte, sah das Zimmer wie eine psychedelische Malerei aus. Sie hatte ihm ein Sandwich mitgebracht, Eiersalat. Sie teilten es miteinander um elf Uhr, und der Geruch von hartgekochtem Ei wurde zu einem Teil der starken Gerüche, die den Tag in sein Gedächtnis einbrannten.
Am Weihnachtsmorgen hatte Adam als Bereitschaftschirurg allein Dienst im OP. Er lag auf der langen Bank in der Küche der chirurgischen Station und hörte den einsamen Geräuschen der Kaffeemaschine zu, als das Telephon läutete.
Es war Meomartino. »Sie werden heute nachmittag irgendwann eine Amputation vornehmen müssen. Ich bin dann schon weg.«
»Schön«, sagte er kalt. »Wie heißt der Patient?«
»Stratton.«
»Den kenne ich gut«, sagte er mehr zu sich als zu Meo-martino.
In der vergangenen Woche hatten sie versucht, auf einem arteriellen Umweg die Zirkulation in Mr. Strattons Bein zurückzubringen. Der ursprüngliche Plan war gewesen, die saphena, die Große Vene im Unterschenkel, herauszuziehen und sie als ein arterielles Übertragungsstück umgekehrt einzupflanzen, so daß die Ventile sich in die gleiche Richtung öffnen würden, in der das Blut durch die Arterie floß. Aber Mr. Strattons Venen hatten sich als miserabel erwiesen, nur zwei Zehntel Zentimeter im Durchmesser, ungefähr ein Viertel des Durchmessers, den die Ärzte gern gesehen hätten. Sie hatten die große arteri-osklerotische Platte herausgeschnitten, die den Kreislauf blockierte, und hatten die Arterie mit einem Plastikersatz zusammengefügt, was nur für ein oder bestenfalls zwei Jahre gehalten hätte, aber es ging von Anfang an daneben. Nun war das Bein ein weißes, totes Ding, das man abnehmen mußte.
»Wann wird er heraufgebracht?«
»Ich weiß nicht. Wir versuchen seinen Anwalt zu erreichen, damit er ihn dazu bringt, die Dokumente zu unterzeichnen. Mr. Stratton ist verheiratet, aber seine Frau liegt mit einer gefährlichen Erkrankung im Beth Israel, daher kann nicht sie unterzeichnen. Ich vermute, daß er oben sein wird, sobald der Rechtsanwalt da ist. Wir versuchen ihn seit gestern abend zu erreichen.«
Adam seufzte, als er auflegte, nahm einen grünen Operationsanzug vom Stapel und ging in den Umkleideraum der Jungchirurgen, um seinen weißen Anzug abzulegen. Der Operationsanzug fühlte sich vertraut und behaglich an. Er hob ein Paar schwarzer Plastikstiefel auf, riß die perforierten Oberteile ab und legte die so gewonnenen Plastikstreifen zwischen seinen bestrumpften Fuß und seinen Schuh, bevor er die Stiefel mit elastischen Bändern an seinen Knöcheln befestigte. Dann, zum Kampf gegürtet, gestiefelt und gespornt gegen die Möglichkeit eines elektrischen Funkens, der einen sauerstoffgeladenen OP in einer feurigen Explosion hochgehen lassen könnte, kehrte er zu seiner Küchenbank und seinem Buch zurück, aber nicht für lange.
Als er sich diesmal am Telephon meldete, war es die Unfallstation. »Wir schicken euch einen Mesenterialinfarkt hinauf. Sie können schon anfangen, sich die Hände zu schrubben. Dr. Kender treibt eine ganze Versammlung zusammen, um den Fall zu besetzen.«
»Louise«, rief er, als er auflegte. Die OP-Schwester, die am Fenster saß, legte ihre Stickerei hin.
»Fröhliche Weihnachten«, sagte sie.
Es war eine erfreuliche Tatsache, daß man so viele chirurgische Talente in so kurzer Zeit versammeln konnte. Vierzehn Leute - Schwestern, Chirurgen, Anästhesisten -drängten sich in dem kleinen OP mit den vielen Geräten. Der Patient war grauhaarig, unrasiert und im Koma. Er mochte in den späten Fünfzigern oder frühen Sechzigern sein, hatte einen kräftigen Körper, aber einen großen weichen Bierbauch. Die Polizei, die ihn in seiner Wohnung im Koma gefunden hatte, wußte bereits, daß er herzkrank war und Digitalis nahm. Man nahm an, daß sein Kreislauf als Nebeneffekt der Digitalisdosis in Mitleidenschaft gezogen worden war, obwohl man keine Ahnung hatte, wieviel und wann er es genommen hatte.
Man hatte ihn heraufgebracht, während er schon intravenöse Flüssigkeit bekam, und ein Facharztanwärter für Anästhesie betätigte ein fahrbares Sauerstoffgerät, um ihm atmen zu helfen.
Adam beobachtete Spurgeon Robinson, wie er die Brust des Mannes wusch. »He«, sagte Spurgeon und winkte ihn herbei. Eine Tätowierung. Adam las über den Patienten gebeugt den Satz, und ihm war lächerlich zumute, als er betete: »Lieber Gott, bitte nimm diesen Mann in den Himmel auf ... seine Zeit in der Hölle hat er schon abgedient.« Was für ein Leben mochte wohl eine solche Ver-zweiflung ausgelöst haben, daß sie den Mann veranlaßt hatte, diesen Gedanken wie eine Rüstung zu tragen? Er prägte ihn sich ein, als Spurgeon mit seinen Bausch darüberfuhr und der Satz unter Betadin verschwand. Falls es eine Quelle für dieses Zitat gab, funktionierte Adams Computer nicht.
Der Patient war bereits an einen Schrittmacher angeschlossen. Andere Apparate waren dicht an den Operationstisch gerollt worden, ein Gerät zur Messung der Blutgase, eines zur Messung des Blutvolumens, ein Elektro-kardiograph, der wie ein tollwütiges Tier aus Glas und Metall ein Biip-biip-biip von sich gab, und die aufleuchtenden Kurven marschierten über seinen Schirm, während das Herz des Mannes weiter kämpfte.
Kender wartete ungeduldig, bis die Vorbereitungen für die Sterilisation des Operationsfeldes vollendet waren, dann trat er an den Operationstisch heran, nahm das Skalpell von Louise entgegen und machte schnell den Schnitt. Adam stand mit dem Absaugapparat bereit, und der Behälter an der Wand begann wie ein Niagarafall zu tosen, als die peritonale Flüssigkeit aus der Bauchhöhle des Patienten in ihn gesogen wurde.
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