Mrs. Williams kam ans Telephon.
»Wissen Sie, wie spät es ist?« fragte sie scharf, als er Dorothy verlangte.
»Ja. Das ist eben eines der Dinge aus dem Leben eines Arztes. Gewöhnen Sie sich lieber schon jetzt daran, Mamma.«
»Spurgeon?« fragte Dorothy einen Augenblick später. »Was war in der Konferenz?«
»Ich bleibe Spitalsarzt.«
»War es gräßlich?«
»Sie haben mir die Nase drin gerieben, wie man das bei einem Hundejungen macht.«
»Geht's dir halbwegs?«
»Mir geht's prima. Die größte lebende Kapazität der Welt in Sachen Zahnfortsatz.« Plötzlich erzählte er mit belegter Stimme von der großen dicken Seelenschwester und dem süßesten kleinen, weichärschigen, gut gebauten Babyjungen, der das Licht der Welt erblickte, weil Dr. Robinson als furchtloser Arzt an der vordersten Front stand.
»Ich liebe dich, Spurgeon«, sagte sie, sehr leise, aber deutlich, und er konnte sich vorstellen, wie sie da in der Küche in ihrem Nachthemd stand, ihre wunderschöne Hand um den Hörer gekrümmt, und ihre Mutter wie ein großer dunkler Schmetterling herumflatterte.
»Hör zu«, sagte er ganz laut, und es war ihm gleichgültig, ob Adam Silverstone oder sonst jemand auf der ganzen Welt ihn hörte. »Auch ich liebe dich, sogar mehr, als ich deinen heiratsfähigen nubischen Körper besitzen will. Was sehr viel mehr als beträchtlich ist.« »Du bist verrückt«, sagte sie mit ihrer altjüngferlichen Lehrerinnenstimme.
»Aha. Aber wenn deine Fahrkarte in die große Welt des weißen Mittelstandes endlich gelocht ist, werde ich das Annullierungswerkzeug sein.«
Er glaubte sie lachen zu hören, war sich jedoch nicht sicher, weil sie einfach eingehängt hatte. Er blies einen lauten schmatzenden Kuß in das summende Telephon.
9
HARLAND LONGWOOD
Im Verlauf seiner Krankheit gewöhnte sich Harland Longwood an sie wie an ein häßliches, verhaßtes Kleidungsstück, das man aus wirtschaftlichen Gründen nicht wegwerfen kann. Er fand nachts immer weniger Schlaf, worüber er jedoch nur zum Teil unglücklich war, da er am besten schreiben konnte, wenn das Wohnhaus in Cambridge in schwarzen Samt gehüllt war und die Welt mit einem Minimum an Geräuschen durch die geschlossenen Fenster drang.
Er schrieb schnell, arbeitete das Material auf, das im Laufe vieler Jahre gewissenhaft und langsam angesammelt worden war, und vollendete für jedes Kapitel einen sorgfältigen zweiten Entwurf, bevor er zum nächsten schritt. Als er drei Kapitel geschrieben hatte, wußte er, daß es Zeit für eine Überprüfung war, und nach langer Überlegung wählte er drei hervorragende Chirurgen, die weit genug von Boston lebten, so daß die Nachricht von seiner Krankheit noch nicht zu ihnen gedrungen sein konnte. Das Kapitel über Thoraxchirurgie ging an einen Professor am McGill-Institut, das Kapitel über Bruchoperationen an einen Chirurgen am Lo-ma-Linda-Hospital in Los Angeles, das Kapitel über die Methodik an einen Mann an der Mayo-Klinik in Minnesota.
Als ihre Rezensionen eintrafen, wußte er, daß er keinem aus bloßer Ichsucht geborenen, närrischen Traum nachgejagt war.
Der Professor vom McGill war von dem Teil über die Thoraxchirurgie begeistert und bat um die Erlaubnis, ihn in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift zu veröffentlichen. Der Chirurg der Mayo-Klinik zollte ihm hohes Lob, wies jedoch auf ein zusätzliches Gebiet hin, das in diesem Zusammenhang interessant sein würde, was drei weitere Wochen mühevoller Arbeit bedeutete. Der Kali-fornier, ein eifersüchtiger Pedant, mit dem er jahrelang in Streit gelegen war, räumte zwar mürrisch den Wert des Materials ein, fügte aber drei haarspalterische redaktionelle Korrekturen hinzu, mit denen Longwood nicht übereinstimmte und die er überging.
Er schrieb mit einer Feder und füllte liniertes Papier mit einer verkrampften, spinnenartigen Schrift. Gelegentlich überwältigte ihn der Schlaf bei Tag, wenn er einen Teil an dem Buch fertiggeschrieben hatte, und zum erstenmal im Leben begann er häufig im Krankenhaus zu fehlen und daheim zu bleiben, dankbar für Bester Kenders Fähigkeit, ihn abzulösen.
Er fühlte sich jetzt sicher genug, eines Tages beim Mittagessen das Buch Elizabeth gegenüber zu erwähnen, und war gerührt, als sie sich freiwillig anbot, das Manuskript zu tippen, weil er glaubte, sie wolle über ihn wachen. Zwei Tage spielte sie wie ein Kind an der Schreibmaschine herum, am dritten Vormittag stand sie jedoch nach zwanzig Minuten auf und verbrachte lange Zeit vor dem Spiegel, um sich den Hut aufzusetzen.
»Ich habe Edna Brewster versprochen, mit ihr einkaufen zu gehen, Onkel Harland«, sagte sie, und als er nickte, küßte sie ihn auf die Wange.
Nach einigen Tagen war es Bernice Lovett, die krank war und besucht werden mußte.
Zwei Vormittage später sagte sie, Helen Parkinson habe darauf bestanden, daß sie dem Komitee die neue VincentClub-Show planen helfe.
Danach wurde ihre Anwesenheit von Susan Silberger, Ruth Moore, Nancy Roberts gebraucht, während der Stapel ungetippten Manuskripts neben der Schreibmaschine wuchs.
Der Kubaner war nicht fähig, ihr Halt zu geben, dachte er, endlich in seiner Mißbilligung Meomartinos bestätigt.
Sie blieb immer eine Weile in seiner Wohnung und ging dann, nachdem sie nachdrücklich die Frau genannt hatte, mit der sie den Tag verbringen würde. Er brauchte nur bis zu dem Vormittag mit Helen Parkinson, um sich die Dinge zusammenzureimen.
»Du meinst, falls dein Mann anruft«, sagte er, als sie es ihm sagte.
Liz sah ihn an und lächelte dann. »Jetzt sei nicht töricht und sage ja nichts, das wir beide bedauern würden, Onkel Harland«, sagte sie.
»Elizabeth, du bist hergekommen, um mir bei der Arbeit zu helfen. Möchtest du mit mir über ... irgend etwas sprechen? Kann ich dir helfen?«
»Nein«, sagte sie.
Statt darüber nachzudenken, rief er ein Schreibbüro an und traf eine Vereinbarung für die stundenweisen Dienste einer Typistin, die jederzeit für ihn bereit stand.
Am schlimmsten waren die Nächte, die er an dem Blutwäscheapparat verbrachte, festgehalten von Nadelfingern, während sich die Glasrohre hellrot färbten, ihm wie ein Vampir das Blut aussaugten, und er dalag, lange Stunden an das Bett gefesselt, Gefangener einer Maschine, die ihm Leben spendete.
Sie machte keinen Lärm, aber sie plätscherte leise. Er wußte, daß es ein lebloses Produkt der menschlichen Be-gabung für Mechanik war, dennoch kam ihm mitunter das Plätschern wie ein leises spöttisches Lachen vor.
Wenn er befreit wurde, entfloh er ihr erleichtert und ging in die Stadt wie ein Seemann auf Urlaub, nahm einen Drink im Ritz-Carlton, aß bei Locke-Ober, wo er oft seine Diätregeln mit dem Gefühl durchbrach, daß ihm die Kochsalzbeschränkung buchstäblich etwas vom Salz des Lebens raubte. Regelmäßig bestellte er nach dem Essen reichlich Brandy. Er war nie knausrig gewesen, jetzt aber erstaunte er Louie, den Kellner, der ihn seit dreißig Jahren bediente, mit verschwenderischen Trinkgeldern.
Besessen von dem Wunsch, das Buch fertigzuschreiben, arbeitete er jede Nacht; er schrieb so schnell er nur konnte und beobachtete sich mit der Distanz eines Fremden, der einem Pferderennen zusieht und ironisch amüsiert fragt, wer wohl gewinnen würde.
Ein-, zweimal ließ Elizabeth den kleinen Jungen bei ihm in der Wohnung, und Longwood spielte mit seinem Großneffen auf dem Boden, während die Sonne durch das Fenster strömte, und er sich in seiner Schwäche mit dem Jungen gleichaltrig fühlte, sich zufrieden gab, die Spielzeugautos, die Miguel mitgebracht hatte, herumzurollen; das blaue wurde von der kleinen dicken Hand und das rote von den langen knochigen Fingern geschoben, die noch vor kurzem chirurgische Instrumente gehalten hatten, um den Teppich herum, zwischen den Sesselbeinen hindurch und unter dem Speisezimmertisch. Manchmal nahm er nachmittags den Jungen auf wirkliche Fahrten in einem wirklichen Auto mit, gewöhnlich auf kurze Ausflüge, aber eines Nachmittags befand er sich auf der Route 128, hielt das Gaspedal niedergedrückt, die Tachometernadel rückte immer höher und höher, und der Wagen jagte über die Straße.
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