Der Tag ging weiter, wie er begonnen hatte.
Katastrophal.
Er und Meyerson hatten nichts zu tun und ödeten einander bis in den tiefen Nachmittag hinein an. Von drei Uhr dreißig bis kurz vor acht Uhr dreißig hatten sie sechs Abholfahrten, vier davon lange und schwierige Transporte. Um acht Uhr fünfunddreißig wurden sie ausgeschickt, um Mrs. Thomas Catlett zu holen, eine bevorstehende Entbindung, Simmons Court 31, Charlestown. Meyerson verließ jedoch die Schnellstraße und wand sich durch Straßen, die nicht mehr verbreitert worden waren, seit man sie als breit genug für Paul Reveres Pferd erklärt hatte. Zum Schluß fuhr er in eine Parkverbotszone vor Shapiros Buchladen in der Essex Street ein.
»Wohin fahren Sie?« fragte Spurgeon mißtrauisch.
»Ich habe Hunger. Ich hole ein belegtes Brot und einen Drink im Delikatessenladen, Sie fahren, während ich esse. In Ordnung?«
»Machen Sie schnell.«
»Beruhigen Sie sich. Soll ich Ihnen etwas mitbringen? Ein Corned beef?«
»Nein, danke.«
»Pastrumi? Das Fleisch wird dort gedünstet.«
»Maish, ich will keine Zeit verschwenden.«
»Essen müssen wir.«
Spurgeon gab nach und reichte ihm einen Dollar aus seiner Brieftasche. »Schweizerkäse auf Weißbrot. Kaffee, normal.«
Er saß auf dem Fahrersitz der Ambulanz und studierte die Bücher in Shapiros Auslagen, während die Sekunden zu Minuten wurden und Maish nicht auftauchte. Nach einer Weile stieg er aus, ging zur Ecke und spähte durch die Auslage des Essex-Delikatessenladens. Durch die Scheibe sah er Maish, eingerahmt von einem riesigen Salamiring im Schaufenster, den Torso hinter einer Pyramide von Knackwürsten versteckt, Schlange stehen und mit zwei Taxifahrern reden.
Ungeachtet der etlichen hundertzwanzig Augen, die sich ihm sofort zuwandten, klopfte Spurgeon an das Fenster und deutete auf seine Armbanduhr.
Maish zuckte die Achseln und deutete auf den Ladentisch.
Himmel, er war noch immer nicht bedient worden.
Spur drehte sich um und ging in die andere Richtung, an dem Buchladen vorbei zum Ende des Wohnblocks. Drüben lag Chinatown, ein blitzender Neondschungel von Palmen und Drachen.
Er ging zurück. Eine Weile lehnte er am Krankenwagen.
Schließlich hielt er es nicht länger aus, ging zum Essex und trat ein.
»Lösen Sie einen Scheck«, sagte der Mann am Eingang.
»Ich kaufe nichts.«
»Dann geben Sie ihn auf dem Weg hinaus zurück.«
Maish saß mit den Taxifahrern an einem Ecktisch, den Teller vor sich bis auf ein paar Fleischkrümel leer. In seiner Flasche war noch zwei Finger hoch Bier.
»Jetzt aber raus hier und in den Krankenwagen, verdammt noch mal«, sagte Spurgeon.
Maish sah die Taxifahrer an und hob die Augenbrauen. »Ein Neuling«, sagte er.
Im Wagen reichte er Spurgeon einen braunen Papiersack und zwanzig Cent Wechselgeld. »Ich hab' mir gedacht, ich freß es lieber drinnen«, sagte er. »So kann ich selbst fahren. Ich kenne Charlestown. Ich hab' mir gedacht, Sie könnten sich verfahren.«
»Beeilen wir uns lieber, diesen Entbindungsfall abzuholen. Wäre vielleicht keine schlechte Idee, was?«
»Sobald wir sie eingeliefert haben, garantiere ich Ihnen, daß sie noch eineinhalb Tage brauchen wird.«
Sie fuhren durch Chinatown zur Schnellstraße. »Essen Sie«, befahl Maish, die jüdische Mutter des AmbulanzKorps. Das belegte Brot schmeckte auf Spurs nervöser Zunge wie Pappe, der Kaffee war ekelhaft kalt, und er schluckte ihn herunter, als sie über die Tobin-Gedächtnisbrücke rumpelten. »Haben Sie fünfundzwanzig Cent?« Es war Sache des Fahrers, Mauten zu bezahlen, aber Spurgeon rückte mit dem Geld heraus und nahm sich vor, es später einzutreiben.
Die Straßen sahen alle gleich aus, die Häuser sahen alle gleich aus.
Maish brauchte zehn Minuten, bis er zugab, daß er Sim-mons Court nicht finden konnte, und weitere fünf, bis er die Suche auf der Straßenkarte aufgab.
Nach längeren Beratungen mit zwei Polizisten und einer Küstenpatrouille der Marine fanden sie ihren Bestimmungsort, eine unbeleuchtete Sackgasse am Ende einer Privatstraße mit tiefen Schneefurchen. Natürlich wohnten die Catletts im dritten Stock. Die Wohnung war dunkel und schmutzig und roch nach Unterstützungsgeldern. Aus dem Schlaf gerissene Kinder und ein stummer, mürrischer Mann. Die Frau war aufgeschwemmt von allzu stärkehaltiger Ernährung, Sorgen und zu häufigen Geburten. Sie legten sie, beide keuchend, auf die Krankentrage. Das älteste Mädchen legte einen braunen Papiersack neben die Mutter auf die Tragbahre.
»Mein Nachthemd und so Sachen«, sagte die Frau stolz zu Spurgeon.
Sie gingen zur Tür, dann aber blieb Spurgeon stehen, wobei sich ihm die Tragbahre in die Kniekehlen bohrte. »Wollen Sie ihr nicht Adieu sagen?« fragte er den Mann.
»'dieu.«
»'dieu«, sagte sie.
Sie war sehr schwer. Spurgeon und Meyerson manövrierten sie die schmalen knarrenden zwei Treppen hinunter und aus dem düsteren Gestank des Vorhauses hinaus.
»Vorsicht auf dem Eis«, warnte Maish.
Ihre Arme und Beine waren steif und zitterten, als sie sie endlich in den Krankenwagen schoben.
Sie schrie wild auf.
»Was ist los?« fragte Spurgeon.
Es dauerte fast eine Minute, bis sie antworten konnte. In seinem ersten Schrecken hatte er nicht daran gedacht, auf die Uhr zu schauen.
»Ich hab' Schmerzen.«
»Was für Schmerzen?« »Sie wissen doch.«
»War das die erste Wehe?«
»Nein. Hab' schon eine Menge gehabt.«
»Meyerson, fahren Sie lieber los«, sagte er. »Schalten Sie Ihr Spielzeugpfeifchen ein.«
Maish, der Prahler, der Kretin, drückte sofort auf die Sirene, und sie fuhren durch den leeren Hof und die leere Straße hinunter, während in jeder Wohnung Lichter angingen und ein schwarzes oder braunes Gesicht aus einem Fenster spähte.
Spur setzte sich neben die Frau und stemmte die Füße gegen die gegenüberliegende Wand, um auf seinen Knien schreibend ihre Personalien aufzunehmen.
»Ich stelle lieber gleich den ersten Teil der Krankengeschichte zusammen«, brüllte er gegen das anstürmende Sirenengeheul. »Wie ist Ihr voller Name, Mutter?«
»Was?«
»Ihr voller Name!«
»Martha Hendricks Catlett. Hendricks ist mein Mädchenname.« Heiser buchstabierte sie.
Er nickte. »Wo geboren?«
»Rochester.«
»New York?« Sie nickte. »Thomas heißt Ihr Mann. Mittlerer Anfangsbuchstabe?«
»C. Für Charlie.« Ihr Gesicht verzog sich, sie kreischte auf und rollte sich auf der Tragbahre herum.
Diesmal blickte er auf die Uhr. 9,42. Die Wehe dauerte fast eine Minute.
»Wo ist Ihr Mann geboren?«
»Choctaw, Alabama. Verdammter Lügner.«
»Warum?« »Erzählt den Kindern, daß er Halbindianer ist.«
Grinsend nickte er. Allmählich mochte er sie. »Wo arbeitet er?«
»Arbeitslo - oos« - der Schrei verwandelte sich in Angstgekreisch.
Er blickte wieder auf seine Uhr. 9,44. Zwei Minuten.
Ich kann kein Kind entbinden, dachte er benommen.
Seine Erfahrung beschränkte sich auf fünf Tage Unterricht in Geburtshilfe während seines dritten Jahres an der Medizinischen Schule, vor zwei Jahren.
Hatte er sich etwas von damals gemerkt?
»Haben Sie eine Leibschüssel, Doc?«
»Können Sie nicht warten?«
»Ich glaube nicht.«
Das war die Entscheidung; er wußte, daß das Kind fast da war.
Er stürzte nach vorn und klopfte Meyerson auf die Schulter. »Fahren Sie an den Straßenrand und halten Sie.«
»Warum?«
»Ich will Ihnen noch ein gottverdammtes Corned-Beef-Sandwich kaufen!« schrie er.
Der Krankenwagen verlangsamte sein Tempo, hielt an, verschluckte sein Sirenengeheul mit einem Geräusch, das wie Schluckauf klang. Plötzlich war es sehr still, mit Ausnahme des Fsch, fsch, fsch der sehr schnell und sehr dicht vorbeifahrenden Autos.
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