Auf dem Barhocker am Ende der Theke bestellte er ein Kalbskotelett mit Parmesan. Ein Fernsehapparat über dem Spiegel spie eine Nachrichtensendung aus, die letzten Daten der Katastrophe in der Schweinebucht.
Wenige Invasoren waren evakuiert worden.
Ein großer Prozentsatz von ihnen war getötet worden.
Praktisch alle Überlebenden waren in Gefangenschaft.
Als sein Kalbskotelett kam, nahm er sich nicht einmal die Mühe, es anzuschneiden. »Einen doppelten Scotch.«
Er trank ihn, dann einen zweiten und fühlte sich besser, und dann einen dritten, von dem ihm sehr schlecht wurde. Da er Luft brauchte, ließ er eine Banknote auf die Mahagoniplatte fallen und ging auf müden Beinen fort.
Draußen hing der neue Nachthimmel niedrig und schwarz, der Wind klatschte wie eine Reihe nasser Handtücher vom Meer herein. Er suchte einen Unterstand, als ein Taxi stehenblieb.
»Bringen Sie mich zu irgendeiner guten Bar. Und warten Sie dort, bitte.«
Park Square. Das Lokal hieß The Sands. Die Beleuchtung war trüb, aber der Scotch entschieden nicht verwässert. Als er hinauskam, stand das Taxi da, ein gespenstiges Schlachtroß, das ihn mit tickendem Taxameter im Galopp zu den neonerleuchteten Vergnügungspalästen der Lebenden brachte. Sie rückten mit häufigen Pausen nach Norden vor. Als Rafe vor einer Taverne in der Charles Street ausstieg, drückte er dem Fahrer dankbar für seine Loyalität eine Banknote in die Hand und bemerkte den Irrtum erst, als das Taxi wegfuhr.
Als er das Lokal in der Charles Street verließ, waren alle Gegenstände verschwommene Flecken, einige heller als andere. Der Wind vom Charles River herüber war rauh und naß. Der Regen trommelte und zischte auf dem Gehsteig zu seinen Füßen. Seine Kleider und Haare sogen ihn auf, bis sie ihn nicht mehr halten konnten, und liefen dann über, wie die übrige Welt. Der Regen, hart und kalt, biß ihn ins Gesicht und bewirkte, daß ihm unerklärlich übel wurde.
Er ging an der Massachusetts-Augenklinik und an den triefenden Umrissen des Allgemeinen Krankenhauses vorbei. Er war sich nicht sicher, wann eigentlich die Feuchtigkeit in ihm hochwallte, um der Nässe draußen zu begegnen, aber plötzlich entdeckte er, daß er von tief, tief innen her weinte.
Um sich selbst.
Um den Bruder, den er so sehr gehaßt hatte und nie wieder sehen würde.
Um seine tote Mutter.
Um den Vater, an den er sich kaum erinnern konnte.
Um seinen verlorenen Onkel. Um die Tage und Orte seiner Kindheit.
Um die lausige Welt.
Er hatte ein erleuchtetes Vordach vor einem scheinwerfererhellten Hafen erreicht, wo von Menschen errichtete Springbrunnen im Regen plätscherten.
»Weg da«, sagte der Türhüter des Charles River Park drohendsotto voce. Rafe drückte sich beiseite, um zwei Frauen vorbeizulassen, die nach zerquetschten Rosen rochen. Die eine war schon in das Taxi gestiegen, als die andere zurückkam und die Hand ausstreckte, als wollte sie ihn berühren. »Doktor?« sagte sie ungläubig.
Er erinnerte sich von irgendwoher an sie und versuchte zu sprechen.
»Doktor«, sagte sie. »Ich habe Ihren Namen vergessen.
Wir haben einander in dem Kaffeehaus im Massachusetts General kennengelernt. Ist Ihnen nicht gut?«
Ich bin ein Feigling, sagte er, aber es kam kein Ton heraus.
»Elizabeth!« rief das andere Mädchen aus dem Taxi.
»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte Elizabeth.
Jetzt war das andere Mädchen ausgestiegen. »Wir sind doch ohnehin schon spät daran«, sagte sie.
»Weinen Sie nicht«, sagte Elizabeth. »Bitte.«
»Elizabeth«, sagte das andere Mädchen, »was fällt dir eigentlich ein? Was glaubst du, wie lange die Burschen warten?«
Liz Bookstein legte den Arm um seine Mitte und begann ihn unter dem Vordach über den blutroten Teppich zum Eingang des Hotels hinunterzulotsen. »Sag ihnen, es täte mir leid«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
Als er das erstemal erwachte, sah er in dem trüben Licht der Nachtlampe, daß sie in dem Sessel neben dem Bett schlief; sie trug noch immer ihr Kleid, aber ihr Strumpfbandgürtel, die Strümpfe und Schuhe lagen auf dem Boden, und sie hatte die bloßen Füße unter sich gezogen, um sich gegen die Kälte zu schützen. Das zweitemal lag das graue Licht der ersten Dämmerung im Zimmer, sie war wach und sah ihn mit jenen Augen an, an die er sich jetzt mühelos erinnerte; sie lächelte nicht, sie sagte nichts, sondern schaute nur, und nach einer kleinen Weile schlief er wieder, ohne es zu wollen. Als er erwachte, strömte die helle Vormittagssonne durch die Fenster. Sie saß in demselben Sessel, trug noch immer ihr Kleid, ihr Kopf war auf die Seite gesunken; sie war seltsam wehrlos und sehr schön im Schlaf.
Er erinnerte sich nicht, daß er entkleidet worden war, aber als er aus dem Bett stieg, war er nackt. Zu seiner eigenen Verlegenheit hatte er eine starke Erektion und tappte hastig ins Badezimmer. Er war ein schlechter Betrunkener, überlegte er düster, als er seinen Körper von Giften reinigte.
Nach einer Weile klopfte sie an die Tür.
»Im Arzneischränkchen ist eine neue Zahnbürste.«
Er räusperte sich. »Danke.«
Er entdeckte sie neben einem Rasierapparat, was ihm einen Schock versetzte, bis er sich wütend sagte, daß er ihr gehörte, für die Beine. Unter der Dusche merkte er, daß die Seife mit dem Duft zerdrückter Rosen imprägniert war, zuckte jedoch die Achseln und wurde er zum Sybari-ten. Er vergönnte sich eine Rasur und öffnete dann die Tür einen Spaltbreit, während er sich fertig abtrocknete.
»Kann ich meine Kleider haben?«
»Sie waren verschmutzt. Ich habe alles zum Reinigen geschickt, bis auf Ihre Schuhe. Sie kommen bald zurück.«
Er schlang das feuchte Handtuch um seine Lenden und ging hinaus.
»Na also. Jetzt sehen Sie schon besser aus.«
»Entschuldigen Sie, daß ich Ihr Bett benützt habe«, sagte er. »Als Sie mich gestern abend gefunden haben -«
»Nicht«, sagte sie.
Er setzte sich in den Sessel, und dann kam sie auf ihren bloßen Füßen zu ihm. »Entschuldigen Sie sich nicht dafür, daß Sie ein Mann sind, der weinen kann«, sagte sie.
Die Erinnerung überfiel ihn, und er schloß die Augen. Ihre Finger berührten seinen Kopf, er stand auf und legte die Arme fest um sie, fühlte ihre weichen warmen Handflächen und ausgestreckten Finger auf seinem nackten
Rücken. Er wußte, daß sie ihn durch das Handtuch hindurch spürte, aber sie trat nicht zurück.
»Meine einzige Absicht war, Sie aus dem Regen hereinzuholen.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Sie kennen mich schon gut. Ich glaube, Sie könnten der eine sein. Ich habe so sehr gesucht.«
»Wirklich?« sagte er traurig.
»Sind Sie irgendein Südamerikaner?« fragte sie dann.
»Nein. Kubaner.«
»Warum muß ich immer in Minoritätengruppen geraten!« sagte sie in seine Brust hinein.
»Vielleicht weil Ihr Onkel ein solches Schwein in diesen Dingen ist.«
»Ja, aber seien Sie nett. Bitte, entpuppen Sie sich nicht als garstiges Etwas. Ich könnte es nicht ertragen.« Sie hob das Gesicht, und er mußte den Kopf neigen, um sie auf den Mund zu küssen, der bereits weich war und sich bewegte. Er tastete an ihrem Nacken, um die Knöpfe des zerdrückten Kleides zu öffnen. Als er es schließlich aufgab und sie zurücktrat, um es selbst zu tun, rutschte das Handtuch an ihm hinunter, und ihre Kleidungsstücke fielen eines nach dem anderen daneben auf den blauen Teppich. Ihre Brüste waren klein, aber schon Jahre jenseits des Knospenstadiums, ja, sie waren leicht überreif, mit Warzen wie Fingerspitzen. Sie trug sonnenbraune Strümpfe an ihren hübschen, molligen, muskulösen Beinen - Tennisspielerin? -, deren volle Schenkel wie ein Begrüßungskomitee bereit waren.
Einige Augenblicke später mußte er zu seinem Entsetzen feststellen, daß es genauso war wie am Abend vorher, als er halb verhungert eine Mahlzeit bestellt und sich dann außerstande gesehen hatte, sie zu essen.
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