Als der Vorhang geteilt wurde, fuhr Potter erschrocken auf, aber als er Spurgeon erkannte, grinste er. »Ah,
Dr. Robinson, ich bin froh, daß Sie für eine Konsultation frei sind. Hat Sie Dr. Moylan geschickt?«
Ohne einen der beiden Männer anzusehen, nahm Spur-geon eine Zange, fand den verpönten Gegenstand, entfernte ihn und ließ ihn in den Abfalleimer fallen. »Ihr Freund wartet draußen, um Sie heimzubringen«, sagte er.
Sie entfernte sich sehr schnell.
Der Spitalsarzt aus der Anästhesiologie hatte zu lachen aufgehört. Potter stand da und schaute Spurgeon durch den dummen runden Spiegel auf seiner Stirn an. »Es war harmlos, Robinson. Nur ein Witz.«
»Du gottverdammter Halunke.«
Er wartete einen Augenblick auf einen Wirbel, aber natürlich kam keiner; er verließ die Unfallstation und ging nur leicht zitternd in seine Abteilung hinauf.
Wenn er sich einen Feind im Stab hätte machen müssen, dann wäre seine Wahl auf Potter gefallen; er war ein völliger Versager.
Als er angewiesen wurde, einem Spitalsarzt zu zeigen, wie man eine Krampfader herauszieht, hatte Lew Chin den ganzen Vorgang theoretisch mit ihm durchgesprochen. Als der Konsiliarchirurg in den danebenliegenden OP geholt worden war, um bei einem Herzstillstand zu helfen, war Potter hingegangen und hatte irrtümlicherweise statt der Krampfader die Oberschenkelarterie herausgezogen. Dr. Chin, so wütend, daß er kaum sprechen konnte, hatte versucht, den Schaden zu beheben und die lebenswichtige Arterie durch einen Nylonschlauch zu ersetzen. Aber es war ein Schlamassel: die Übertragung war unmöglich durchzuführen; und eine Frau, die wegen einer einfachen Korrektur in den Operationssaal gekommen war, wurde mit einer Amputation in die Abteilung zurückgebracht. Dr. Longwood hatte sich in einer Diskussion über die
Komplikationen der Woche sehr scharf zu dem Fall geäußert. Aber kaum eine Woche später hatte Potter, als er die einfachste Bruchoperation durchführte, die Samenschnur mit dem Bruchsack zusammen abgebunden. Die Blutversorgung in diesem Gebiet war schwer gefährdet, und innerhalb von Tagen hatte der Mann unwiederbringlich die Funktion einer Hode verloren. Diesmal hatte der Alte den Fall noch schärfer kritisiert und den Stab daran erinnert, daß die Medizin noch keinen Zutritt zu einem Ersatzteillager habe.
Potter hatte Spurgeon leid getan, aber die arrogante Dummheit des Facharztanwärters machte jedes Mitgefühl weiterhin unmöglich, und jetzt genoß er es, verächtlich ignoriert zu werden, wann immer er Potter auf dem Gang traf. Auf Jack Moylan hatte der Vorfall in der Unfallstation die entgegengesetzte Wirkung, er versuchte besonders freundlich zu sein, eine Bestechung, die Spur verachtete.
An dem Vorfall waren nur wenige Leute beteiligt gewesen, und die meisten Kollegen behandelten ihn wie vorher. Er und Silverstone hatten den sechsten Stock rassenintegriert. Ansonsten aber lebte er allein auf seiner Insel. Hie und da war ihm seine Einsamkeit sogar lieb.
Mitte September gab es einige kalte Tage, dann einen Hitzeeinbruch, aber trotzdem konnte er es in der Luft spüren, die jeden Morgen durch sein offenes Fenster wehte, eine seltsame Mischung von Meeresozon und Stadtgestank, daß selbst der Nachsommer bald vorbei sein würde. An seinem nächsten freien Tag, einem Sonntag, zog er die Decke vom Bett, nahm seinen Badeanzug und fuhr mit dem alten Volkswagenbus zum Revere-Strand, dort war es hübscher als am Coney, wenn auch bei weitem nicht so nett wie am Jones. Als Spur um halb elf Uhr vormittags hinkam, lag der Strand fast verlassen da, aber nach dem
Essen, das für ihn aus heißen Wursteln, einem Brötchen und einer Flasche Millers' bestand, kamen die Leute.
Er nahm seine Decke, beschloß auf Erkundung auszugehen und wanderte mühsam am Rand des Wassers dahin, bis er die städtischen Strandanlagen verlassen hatte. Die Anlagen hier waren zwar noch immer öffentlich, wurden jedoch nicht instandgehalten. Der Sand war aschgrau und spärlich statt weiß und tief, mit Lastwagen herangeführt, und streckenweise gab es nur rauhe Steine. Aber hier waren weniger Menschen. In unmittelbarer Nachbarschaft ließen sich vier gutgewachsene Kerle voll Selbstgefälligkeit und strotzenden Muskeln nieder; ein dicker Mann mit einem blassen Bauch lag wie ein Schwamm im Sand, das Gesicht mit einem Handtuch bedeckt; zwei Kinder liefen und sprangen tänzelnd am weißschäumenden Rand der Brecher dahin und kreischten wie kleine Tiere; ein Negermädchen lag ausgestreckt in der Sonne.
Er ging langsam an dem Mädchen vorbei, um mehr Zeit zu haben, es zu betrachten, dann kehrte er um und wählte einen Platz etwa vier Meter von der Stelle entfernt, wo sie mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag. Anderswo gab es schöne Sandstellen, dort, wo er seine Decke ausbreitete, nur Steine; als er sich setzte, gruben sie sich in sein Fleisch.
Sie war heller als er, eine Art Schokoladebraun gegenüber seinem Purpurschwarz. Sie trug einen einteiligen Trikotanzug, sehr weiß, auf Sittsamkeit bedacht, ein Eindruck, der jedoch dank der Figur des Mädchens nicht zustande kommen konnte. Ihr Haar war kraus, schwarz und so kurz geschnitten, daß es ihren schönen Kopf wie eine prächtige enganliegende Kappe schmückte. Sie war, wie kein weißes Mädchen je zu sein erhoffen konnte.
Nach einer Weile waren es die Kerle müde, alle möglichen Muskeln spielen zu lassen, und warfen sich in den
Atlantik. Der vierte, anscheinend von Johnny Weismüller mit Isadora Duncan gezeugt, trabte verächtlich über das entmutigende Gelände und hockte sich neben die Decke des Mädchens. Ah, er bestand nur aus Muskeln, vom Scheitel bis zur Sohle: er redete über das Wetter, die Gezeiten und lud sie großzügig auf ein Coca-Cola ein. Endlich sah er seine Niederlage ein und zog sich finster zurück, um einen Bizeps, groß wie eine nachgeburtliche Brust, anschwellen zu lassen.
Spurgeon hielt sich zurück und gab sich damit zufrieden, sie einfach nur zu beobachten, gewarnt, daß das keine Frau für eine beiläufige Annäherung war.
Nach unbestimmter Zeit setzte sie ihre Badekappe auf, stand auf und ging ins Meer. Klinisch geschult wie er war, bemerkte er interessiert, daß es ihn körperlich schmerzte, ihr zuzusehen.
Er verließ seine Decke und machte die lange Wanderung zu dem blauen Volkswagenbus zurück; er ging schnell, zwang sich jedoch, nicht zu laufen. Die Gitarre lag, wo er sie gelassen hatte, auf dem Boden unter dem zweiten Sitz. Er trug sie zur Decke zurück und verbrannte sich auf den heißen Steinen jämmerlich die Sohlen. Er war überzeugt, daß sie, wenn er zurückkam, für immer fort sein würde, aber sie saß auf ihrer Decke, nachdem sie sichtlich lange geschwommen und ihr Haar trotz der Kappe naß geworden war. Sie hatte sie abgenommen und saß zurückgelehnt, das Gewicht auf die Arme gestützt. Von Zeit zu Zeit schüttelte sie den Kopf, während ihr Haar in der Sonne trocknete.
Er setzte sich nieder und begann die Saiten zu zupfen. Auf Gesellschaften und bezahlten Veranstaltungen hatte er diese Kraftprobe unzählige Male versucht, ein Mädchen ohne Worte, nur mit den Klängen seiner Gitarre zu erobern. Manchmal hatte es funktioniert, manchmal war es
danebengegangen. Er vermutete, daß meistens, wenn es funktioniert hatte, auch alles andere funktioniert hätte, Augen, Rauchsignale, ein gesungenes Telegramm oder ein winkender Finger.
Trotzdem, in der Liebe ist jede Waffe erlaubt.
Die Gitarre sprach sie schüchtern an, in offener, tapfer jede Erotik zurückdrängender Unaufrichtigkeit.
Ich möchte Ihr Freund sein, namenloses Fräulein.
Ich möchte wie ein Bruder zu Ihnen sein.
Glauben Sie mir.
Das Mädchen starrte aufs Meer hinaus.
Ich möchte mit Ihnen über die Trugschlüsse Schopenhauers reden.
Ich möchte mit Ihnen über die besten künstlerischen Filme streiten.
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