»Ich war in der Schule. Gestern war mein erster freier Tag.«
»Sie sind Studentin?«
»Lehrerin. Kunstunterricht an der Mittelschule, siebente und achte Klasse. Sie sind Musiker?«
Er nickte in dem Bewußtsein, daß es keine Lüge war, und weil er noch nicht auf den Rest eingehen wollte und zunächst lieber alles über sie erfahren wollte. »Malen Sie, bildhauern Sie, machen Sie Sachen aus Ton?«
Sie nickte.
»Welches davon?« fragte er. »Ich meine, was ist Ihr Spezialfach?« »Ich bin in allem ganz gut, aber nirgends wirklich gut. Deshalb unterrichte ich. Wenn ich eine Begabung wäre -wenn ich so arbeiten könnte, wie Sie spielen -, würde ich es ausschließlich und ständig machen wollen.«
Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Das ist der Ausspruch eines Amateurs. ,Tut das Schöpferische oder sterbt dafür, alle ihr schrecklich Begabten, während wir übrigen Unglückseligen euch behaglich zusehen.'«
»Sie haben kein Recht, mich als Heuchlerin hinzustellen«, sagte sie.
Selbst ihr Mißvergnügen machte ihm Freude. »Das tue ich nicht.
Aber mein ursprünglicher Eindruck ist der, daß Sie kein Mädchen sind, das Risiken auf sich nimmt.«
»Eine altjüngferliche Tante.«
»Zum Teufel, nein. Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber ich bin ja fast eine alte Jungfer«, räumte sie ein.
»Wie alt?«
»Letzten November vierundzwanzig.«
Das überraschte ihn; sie war nur um ein Jahr jünger als er. »Sie glauben, daß Sie schon zu verwelkt zum Heiraten sind?«
»Oh, es hat nichts mit Heiraten zu tun. Ich spreche über eine Geistesverfassung. Ich werde allmählich konservativ.«
»Eine kleine Farbige hat kein Recht darauf, konservativ zu werden.«
»Interessieren Sie sich sehr für Politik?«
»Dorothy, ich bin schwarz«, sagte er. Es war das erstemal, daß er sie bei ihrem Namen nannte; sie schien erfreut, entweder darüber oder über seine Antwort.
Er begann Sandburgen zu bauen, und sie kniete nieder und grub ein Loch, damit sie feuchten Sand von unten bekämen, dann begann sie selbst mit dem feuchten Sand zu spielen, modellierte ein Gesicht, die Augen auf seine Züge gerichtet, während sie mit langen zarten Fingern den Sand in einer Art streichelte, daß sich seine Knochen in Gelee verwandelten. Sie hatte recht mit ihrem Talent, dachte er, als er das Gesicht im Sand betrachtete, das keine sehr starke Ähnlichkeit mit dem seinen trug.
Als sie schließlich voll Sand waren, sprang sie plötzlich auf und lief ins Wasser, und er folgte ihr durch die eisige Brise und entdeckte zu seiner Erleichterung, daß das Wasser zum Unterschied von der kalten Luft seine Haut wie warme Seide bedeckte. Sie schwamm direkt ins Meer hinaus, und er plantschte tapfer dahin, um neben ihr zu bleiben. Als er fast aufgeben mußte, kehrte sie um, und sie begannen Wasser zu treten, die Körper nahe beisammen, aber einander nicht berührend. »Sie sind eine tolle Schwimmerin«, keuchte er mit einem stechenden Schmerz in der Brust.
»Wir wohnen in der Nähe eines Sees. Ich bin sehr viel im Wasser.«
»Ich habe erst mit sechzehn Jahren schwimmen gelernt, an der Riviera.« Sie glaubte, er scherze. »Nein, ehrlich.«
»Was haben Sie denn dort gemacht?«
»Ich habe meinen Vater nie gekannt. Er war Matrose der Handelsmarine, auf Öltankern. Meine Mutter heiratete wieder, als ich zwölf war, einen wunderbaren Menschen. Meinen Onkel Calvin. Als ich nach meinem wirklichen Vater fragte, war alles, was sie mir je erzählten, nur, daß er tot sei. In dem Sommer, als ich sechzehn wurde, beschloß ich, den Versuch zu machen, die Welt so zu sehen, wie er sie gesehen hatte. Jetzt erscheint es dumm, aber vermutlich dachte ich' irgendwie, daß ich ihn vielleicht finden würde. Zumindest aber verstehen.«
Sie trat das Wasser mit sehr wenig Bewegung, der weiße Badeanzug war untergetaucht, ihre glatten braunen Schultern über der Oberfläche sahen nackt und lieblich aus. »Es ist nicht dumm«, sagte sie. Auf ihrer Oberlippe über dem vollen rosa Mund lag eine ganz schwache weiße Staubschicht, als das Meerwasser in der Sonne trocknete. Er hätte sie lieber mit seiner Zunge gelöscht, hob jedoch einen nassen Daumen und fuhr ihr sanft über die Lippe.
»Salz«, erklärte er, als sie zurückzuckte. »Nun, ich konnte keinen Job auf einem Tanker bekommen, was ein Glück für mich war. Aber ich sagte, ich sei achtzehn, und wurde auf derIle de france als Pianist aufgenommen. Die erste Nacht in Le Havre herrschte dichter Nebel, und ich lungerte einfach nur in den Straßen herum, sah mir alles an, sagte nein zu den Huren und versuchte mir vorzustellen, daß ich älter und zäher sei und eine Frau und einen Babysohn hätte, die auf mich in den Staaten drüben warteten, aber natürlich ging das nicht. Ich konnte es mir nicht vorstellen, wie es für meinen Vater wirklich gewesen war.«
»Gott. Das ist das Traurigste, das ich je gehört habe.«
Er beschloß, ihre Traurigkeit auszunutzen, und bewegte sich wie ein ungeschickt werbender Seelöwe, um mit seinem Mund den ihren zu berühren. Sie riß sich los, überlegte es sich dann, legte die Hände auf seine Schultern und für einen kurzen Augenblick die Lippen weich auf die seinen, ein Kuß, der nach Meer schmeckte, ohne Leidenschaft, aber mit sehr viel Zärtlichkeit.
»Ich kann mich an viel Traurigeres erinnern«, sagte er und griff wieder nach ihr, und sie zeigte ihm ihre schönen Zähne, stemmte beide Füße gegen seine Brust und stieß sich von ihm ab, kein wirklicher Fußtritt, aber es genügte, daß er unterging und Ozean inhalierte, und als er zu husten aufhörte, waren sie einer Meinung, daß es Zeit war, das Wasser zu verlassen.
Sie schwammen an Land, zitterten vor Kälte, bekamen eine Gänsehaut, und er bot ihr an, sie mit dem Handtuch warm zu reiben, aber sie lehnte ab. Sie lief den Strand entlang, um sich aufzuwärmen, und es war sogar noch schöner als wenn sie ging. Es war zu schnell vorbei, sie kehrten zur Decke zurück, und sie öffnete einen Sack, den er für einen Strickbeutel gehalten hatte, und teilte einen sehr guten Lunch mit ihm. »Aber Sie haben mir noch immer nicht erzählt, wie Sie schwimmen lernten«, sagte sie.
»Oh.« Er schluckte Thunfischsalat auf Roggenbrot. »Ich machte die Rundfahrt den ganzen Sommer mit, Manhattan - Southampton - Le Havre, zwei Tage Pause, und dann denselben Weg retour. Es war ein elegantes Schiff, und ich sparte Geld, aber alles, was ich sah, war Wasser. Ich hatte viel zu große Angst, auch nur den Nachtzug nach Paris zu nehmen. Gerade um diese Jahreszeit blieb das Schiff zum Überholen eine Woche lang in Le Havre. Auf dem Schiff gab es einen Zahlmeister, einen Burschen, der Dus-seault hieß. Seine Frau führte eine Boutique für Schmarotzer in Cannes, und er bot mir an, mitzufahren, wenn ich abwechselnd mit ihm den Peugeot lenkte. Die Fahrt dauerte dreißig Stunden. Während er es mit seiner Frau trieb, saß ich täglich am Strand und starrte in Bikinis. Eine französische Teenagerbande adoptierte mich gewissermaßen. Eines der Mädchen lehrte mich in drei Tagen schwimmen.«
»Haben Sie sie geliebt?« fragte sie nach einer Pause.
»Es war ein weißes Mädchen. Meine Erinnerungen an die Amsterdam Avenue waren noch zu deutlich. Damals hätte ich mir eher die Kehle aufgeschlitzt.«
»Und jetzt?«
»Jetzt?« Jahrelang war das kleine französische Mädchen eine Hauptfigur seiner sexuellen und sozialen Phantasien gewesen. Wiederholt hatte er sich gefragt, was wohl geschehen wäre, wenn er dortgeblieben wäre, sie wirklich kennengelernt, sie umworben, sie geheiratet hätte, ein Europäer geworden wäre. Manchmal hatte ihn der verlorene Traum in Sehnsucht und Bedauern erstarren lassen; meistens jedoch sagte er sich, daß es eine Katastrophe geworden wäre. Das liebliche junge Mädchen wäre wahrscheinlich zu einer zänkischen Frau herangewachsen, die Leute hätten mit der Zeit ihre Farbblindheit verloren, die Schlange hätte sich ihren Weg ins Paradiese geschlängelt. »Jetzt ... Ich meine, daß Sie zu viele Fragen stellen«, sagte er.
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