Er bat sie, mit ihm abendessen zu gehen, aber sie lehnte ab. »Meine Eltern erwarten mich.«
»Ich fahre Sie heim.«
»Es ist zu weit«, sagte sie, aber er bestand darauf. Sie lachte, als sie den VW-Bus sah. »Sie sind kein Musiker. Sie sind irgendein Lieferant.«
»Ein Band-Leader ist ein Lieferant. Man transportiert einen Baßspieler, ein paar Hörner, einen Sänger und einen Burschen, der ein ganzes Bündel von Trommeln schleppt.«
Sie schwieg.
»Was ist los?«
»Nichts«, sagte sie.
»Sie tun, als hätten Sie Angst.«
»Woher soll ich wissen, wer Sie sind?« platzte sie heraus. »Ein Mann, dem ich erlaubte, mich an einem öffentli-chen Strand aufzulesen. Sie können ein Pusher sein. Sie können etwas viel Schlimmeres sein.«
Er lachte hell auf. »Ich bin ein Strandgutjäger«, sagte er. »Ich werde Sie auf eine einsame Insel entführen und Ihnen Frangipani ins Haar flechten.« Fast hätte er ihr die Sache mit der Medizin erzählt, aber er unterhielt sich zu gut, und sein Heiterkeitsausbruch war so spontan, daß sie beruhigt war. Ihre Stimmung schlug um, sie wurde gesprächig, fast heiter. Es machte ihm Spaß, nur mit ihr beisammen zu sein, und bevor er es merkte, bog der Volkswagen auch schon bei einem Ort namens Natick von der Massachusetts-Autobahn ab. Das Haus war nur einige Minuten von der Mautstraße entfernt, ein peinlich sauberer Bungalow, mit verwitterten Schindeln verkleidet, in einer ansonst weißen Umgebung. Die Mutter war dünn und mager, mit scharfen Zügen, die auf eine längst vergessene weiße Vergewaltigung hindeuteten. Der Vater war ein brauner, stiller Mann, der aussah, als verbringe er seine freien Stunden damit, den Rasen zu maniküren, die Hecke zu stutzen, ängstlich vergleichende Blicke auf die nahegelegenen angelsächsischen und semitischen Rasen und Büsche zu werfen.
Die Eltern gaben ihm unsicher die Hand, waren jedoch aufrichtig erfreut, daß das Mädchen jemanden heimgebracht hatte. Es war ein Kind da, eine dreijährige Marion mit verfilztem schwarzem Haar und einer Milchkaffeehaut. Er entdeckte, daß er unwillkürlich von einem Gesicht zum anderen schaute und die sich wiederholenden Züge bemerkte.
Ihr Kind, sagte er sich.
Mrs. Williams besaß eine feine angeborene Wahrnehmungsgabe. »Wir nennen sie Midge«, sagte sie. »Die Tochter meiner Jüngsten, Janet.«
Sie führten ihn in die Laube hinter dem Haus, einem Platz im tiefen Schatten, nach Trauben duftend, aber voll Stechmücken. Während Spurgeon nach ihnen schlug, schenkte Mr. Williams Bier ein, bei dessen Herstellung er mitgeholfen hatte.
»Qualitätskontrolle. Vom Produkt Proben nehmen, während es durch die einzelnen Herstellungsphasen geht. Chemische und bakteriologische Überprüfungen jeder Partie während der Gärung durchführen.« Er hatte in der Brauerei als Kehrer begonnen und dann sechs Jahre als Verlader gearbeitet, vertraute er Spur an, während seine Frau und seine Tochter mit einer Geduld schwiegen, die deutlich lange Praxis verriet. Er mußte eine Unzahl von Prüfungen bestehen, um den Job zu erhalten. Und dann kam sein Schlager:
»Gegen drei Weiße!«
»Wunderbar«, sagte Spurgeon.
»Bildung ist wunderbar«, sagte Mr. Williams. »Das ist der Grund, warum es mich freut, Dorothy als Lehrerin und das tun zu sehen, was sie für die jungen Leute nur tun kann.« Er hob den Kopf. »Was machen Sie, mein Sohn?«
Er und das Mädchen sprachen gleichzeitig.
»Er ist Musiker.«
»Ich bin Arzt.«
Ihre Eltern waren offensichtlich verblüfft. »Ich bin Arzt«, sagte er. »Spitalsarzt an der chirurgischen Abteilung im Suffolk County General Hospital.«
Sie sahen ihn an, die Eltern staunend, das Mädchen angewidert.
»Mögen Sie Hühnerpastete?« fragte Mrs. Williams und strich sich die Schürze glatt. Er mochte sie so, wie sie aufgetragen wurde, dampfend, mit Semmelbröseln überbak-ken und mit mehr mageren Hühnerstücken als Gemüse darin, mit frischem Sommerkürbis und kleinen Kartoffeln, die sie wahrscheinlich selbst in dem großen Gemüsegarten hinter dem Haus zogen. Als Nachtisch gab es eisgekühltes Rhabarber-Apfelmus, gefolgt von eisgekühltem Zitronentee. Während die Frauen das Geschirr spülten, spielte Mr. Williams alte Carusoplatten, die zerkratzt, aber interessant waren.
»Er konnte mit seiner Stimme ein Glas zum Bersten bringen«, sagte Mr. Williams. »Vor einigen Jahren, bevor ich Qualitätskontrollor wurde, habe ich hie und da an Wochenenden einen Dollar dazu verdient. An einem Samstagmorgen räumte ich eine Garage drüben im Framingham Center aus, und so eine hochnäsige Dame kam heraus und legte einfach einen großen Stapel Carusoplatten auf den Mist.
,Ma'am', sagte ich, ,Sie werfen soeben ein Stück Ihrer Kultur weg.' Sie maß mich nur geringschätzig, und so legte ich die Platten auf den Rücksitz meines Wagens.«
Sie lauschten der großen toten Stimme, wie sie sich hochschwang; das kleine Mädchen saß leicht wie eine Schneeflocke auf Spurgeons Knie, während aus der Küche das Geräusch von Geschirr kam, das mit der Hand gespült wurde. Nachher sah Spurgeon den Berg Platten durch und suchte nach Dixie oder moderner Musik, fand jedoch nichts Gutes. Es stand ein altes Pianino da, abgenutzt und nachgestrichen, aber, als er einige Tonleitern versuchte, von schönem Klang. »Wer spielt?«
»Dorothy hat einige Stunden genommen.«
Die Frauen waren eben zurückgekommen. »Ich habe genau acht Stunden genommen. Ich spiele drei Kinderlieder von Anfang bis zum Ende und eine Handvoll Bruchstücke. Spurgeon spielt wie ein Berufsmusiker«, erzählte sie ihren Eltern boshaft.
»Oh, spielen Sie uns einige Hymnen vor«, bat die Mutter.
Was zum Teufel, dachte er. Er saß auf dem Drehschemel und spielteSteal Away, Go Down Moses, Rock of Ages, That Old Rugged Cross undMy Lord, What a Morning. Keiner von den vieren hatte eine anständige Stimme, und jeder mistige Weiße, der behauptet, alle Neger besäßen einen angeborenen Rhythmus, hätte den alten Herrn hören sollen. Aber er lauschte dem Mädchen, nicht wie er einer Berufssängerin zugehört hätte, sondern als ein Mensch, der einem anderen zuhört, und als sich ihre Stimme erhob, dünn und schrill wie eine Rohrpfeife und voll echten Gefühls, als sie so mit ihrer Mutter und ihrem Vater sang, fühlte er sich wie ein Fisch, der mit einem Köder herumgespielt hat und plötzlich erkennt, daß ihm der Widerhaken in der Kehle sitzt.
Sie sagten allerlei Herzliches über sein Spiel, und er murmelte Heucheleien über ihren Gesang, dann gingen die Eltern das Kind schlafen legen und Kaffee kochen. Sobald sie allein waren, behandelte sie ihn, als sei er keinen Fußtritt wert.
»Warum mußten Sie lügen?«
»Habe ich nicht.«
»Sie haben ihnen erzählt, daß Sie Arzt seien.«
»Das bin ich.«
»Mir haben Sie gesagt, daß Sie Musiker seien.«
»Das bin ich. Ich war Musiker, bevor ich Arzt wurde, aber jetzt bin ich Arzt.«
»Ich glaube Ihnen nicht.«
»Ihr Pech.«
Der Vater kam zurück, dann die Mutter mit einem Tablett, und sie tranken Kaffee und aßen Bananenbrot. Er sah, daß es draußen dunkel geworden war, und sagte, daß er gehen müsse.
»Sind Sie Kirchgänger?« fragte die Mutter.
»Nein, Ma'am. Ich glaube, ich war in den letzten fünf Jahren keine sechsmal in der Kirche.«
Sie schwieg einen Augenblick. »Ich schätze Ihre Aufrichtigkeit«, sagte sie endlich. »Welche Kirche besuchen Sie, wenn Sie gehen?«
»Meine Mutter ist Methodistin«, sagte er.
»Wir sind Unitarier. Wenn Sie morgen früh mit uns kommen wollen, sind Sie willkommen.«
»Ich habe irgendwo gehört, daß ein Unitarier jemand ist, der an die Vaterschaft Gottes, die Brüderlichkeit der Menschen und an seine Bostoner Adresse glaubt.«
Henry Williams warf den Kopf zurück und brüllte vor Lachen aber Spurgeon sah die zusammengepreßten Lippen von Mrs. Williams, und merkte, daß er sich wie ein verdammter Narr betrug. »Ich habe die nächsten beiden Sonntage Dienst im Krankenhaus. Ich möchte sehr gern in drei Wochen in der Kirche neben Dorothy sitzen, wenn die Einladung bis dahin noch gilt.«
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