»Er wird dein Ruin sein, dieser kleine Hurensohn, möge deine Mutter mir verzeihen«, sagte Leo und spuckte durch das offene Fenster. »Höre nie auf ihn, denk daran, was ich dir sage.«
Aber es war immer so interessant, Guillermo zuzuhören.
Wochen später sagte Guillermo: »Ich hab' was.«
»Laß es mich sehen.«
»Es ist ein Ort.«
»Nimm mich mit.«
»Es ist ein Ort für große Jungen. Du pißt noch immer in die Hose.«
»Nein«, sagte Rafael hitzig und fürchtete, daß er weinen würde, weil er genau in dieser Minute das leise Ziehen in seiner Leistengegend spürte und sich erinnerte, daß er erst vor drei Tagen das Badezimmer nicht rechtzeitig erreicht hatte.
»Es ist ein wunderbarer Ort. Aber ich glaube nicht, daß du schon groß genug bist, um dich mitnehmen zu können. Wenn du dort in die Hose machst, wird dich die alte Hexe holen. Sie kann sich in jedes Tier verwandeln, in das sie will. Und dann heißt's Addio.«
»Du hältst mich zum Narren.«
»Nein. Aber es ist ein großartiger Ort.«
Rafael schwieg. »Hast du sie gesehen?« fragte er schließlich.
Guillermo starrte ihn düster an. »Ich mach' nie in die Hose.«
Sie spielten und wanderten nach einer Weile in das Elternzimmer. Guillermo stellte sich auf das Bett, um die oberste Lade der Kommode zu erreichen, und nahm die rote Samtschachtel heraus, in die der Vater allabendlich die Uhr legte und aus der er sie jeden Morgen holte.
Er öffnete und schloß sie mit einem Knall, öffnete und schloß sie wieder, ein befriedigendes Geräusch.
»Du wirst bestraft«, sagte Rafael.
Guillermo gab ein rüdes Geräusch von sich. »Ich darf sie anfassen, weil sie mir gehören wird.« Die Uhr wurde jeweils an den ältesten Sohn weitergegeben, hatte man den Jungen erklärt. Dennoch legte er sie in die Lade zurück und schlenderte in sein Zimmer zurück, Rafael im Schlepptau.
»Nimm mich mit, Guillermo. Bitte.«
»Was schenkst du mir dafür?«
Rafael zuckte die Achseln. Sein Bruder wählte die drei Spielsachen, von denen er wußte, daß sie dem Herzen des kleinen Jungen am nächsten standen, einen roten Soldaten, ein Bilderbuch über einen traurigen Clown, einen Teddybären namens Fabio, bucklig, weil Rafael ihn immer so krampfhaft an sich drückte, wenn er nachts mit ihm schlief.
»Nicht den Bär.«
Guillermo warf ihm einen eiskalten Blick zu und willigte dann ein.
Am selben Nachmittag, als man meinte, daß sie ihr Schläfchen hielten, führte ihn Guillermo durch den Wald mit den verkrüppelten Tannen hinter dem Haus. Sie brauchten zehn Minuten über den alten gewundenen Pfad, um die kleine Lichtung zu erreichen. Die Räucherkammer war ein großer fensterloser Kasten. Die rohen Balken waren von der Sonne gebleicht und vom Regen silbergrau geworden.
Innen war Nacht.
»Geh voraus«, drängte Guillermo. »Ich gehe direkt hinter dir.«
Aber als Rafe eintrat und die Welt des Lichts und Grüns verließ, fiel hinter ihm die Tür zu, und der Riegel wurde mit einem Klicken zugeworfen.
Rafe plärrte.
Gleich darauf hörte er auf.
»Guillermo«, sagte er dann mit einem glucksenden Lachen, »halt mich nicht zum Narren.«
Ob er die Augen öffnete oder schloß, sie waren erfüllt von Licht. Purpurschatten schwangen an ihm vorbei, auf ihn zu, durch ihn hindurch, Formen, die er nicht erkennen wollte, die Farbe des Bluts von dem großen Schwein, das hier gehangen hatte. Sein Vater hatte ihn ein paarmal zum Schlachten mitgenommen. Er erinnerte sich an die Gerüche und das Blut und das Grunzen, an das wilde Augenrollen.
»Guillermo«, schrie er keuchend, »du kannst Fabio haben.«
Die Stille war schwarz.
Weinend warf er sich vorwärts und stieß unerwartet an die nicht sichtbare Wand, die er erst einige Fuß weiter vermutet hatte. Anstelle seiner Nase war nichts als ein großer Schmerz. Als die Knie unter ihm nachgaben, riß ein vorstehender Nagel seine weiche Wange auf, knapp an seinem rechten Auge vorbei. Auf seinem Gesicht war etwas Nasses, das weh tat, so weh, und in seinem Mundwinkel sammelte sich Salz.
Als er auf den kühlen harten Lehmboden sank, spürte er eine sich ausbreitende weiche Wärme, ein gräßliches Hinunterrieseln an der Innenseite seiner Schenkel.
In der dunklen Ecke raschelten Blätter, und etwas Kleines hastete davon.
»Ich will ein großer Junge sein, ich will ein großer Junge sein«, kreischte Rafael.
Fünf Stunden später, als man auf der Suche nach ihm, seinen Namen schreiend, immer wieder an ihm vorbeigegangen war, hatte jemand - das Faktotum Leo - die Idee, die Tür der Räucherkammer zu öffnen und hineinzuschauen.
In dieser Nacht, beruhigt, behutsam gewaschen, die Rißwunde im Gesicht vernäht und mit grotesker, aber versorgter Nase, schlief er in den Armen seiner Mutter ein.
Leo hatte berichtet, daß die Räucherkammer von außen verriegelt gewesen war. Im Bett des Kindräubers entdeckte man Fabio. Guillermo beichtete und wurde gebührend verprügelt. Am nächsten Morgen fand er sich bei seinem Bruder ein und brachte eine beredte und bußfertige Entschuldigung vor. Zur Verblüffung der Eltern spielten die beiden Knaben zehn Minuten später wieder miteinander, und Rafael lachte zum erstenmal seit vierundzwanzig Stunden.
Aber sein Intelligenzquotient betrug 147, und selbst im Alter von fünf Jahren war er schon klug genug, um zu wissen, daß er etwas gelernt hatte.
Sein Leben wurde davon geformt, daß er seinem Bruder auswich.
Die Männer der Meomartinos pflegten im Ausland zu studieren; als Guillermo sich entschieden hatte, an die
Sorbonne zu gehen, wurde Rafael ein Jahr später Student an der Harvard Universität.
Vier angenehme Jahre lang wohnte er mit einem Jungen aus Portland, Maine, zusammen, George Hamilton Cur-rier, dem derbknochigen Erben einer Konservenfabrik für gebackene Bohnen, deren Produkte als Grundvorrat in drei von zehn amerikanischen Küchenschränken standen. »Beany« Currier verlieh ihm seinen ersten und einzigen Spitznamen - Rafe - und setzte ihm ständig seine Ansichten über die Herrlichkeiten der medizinischen Laufbahn auseinander. Guillermo hatte beschlossen, an der Universität von Kalifornien Jus zu studieren - es war Tradition bei den Männern der Meomartinos, sich für einen Intelligenzberuf zu entscheiden, wenn sie auch später ihr Leben damit verbrachten, sich den Zuckerinteressen der Familie zu widmen, und als Rafe Cambridge als Zweitbester verließ, entschloß er sich nach genauer Überlegung, in Kuba Medizin zu studieren. Sein Vater war einige Jahre zuvor einem Schlaganfall erlegen. Die Welt seiner Mutter, die immer um das milde Feuer ihres Gatten gekreist war, erhielt ihre Stabilität durch eine ähnliche Kreisbahn um ihren Jüngsten. Sie war eine schöne Frau mit einem süßen, aber gequälten Lächeln, eine altmodische kubanische Dame, deren lange schlanke Hände leicht und geschickt Frivolitätenspitze zauberten, die aber doch so modern war, um abstrakte Kunst zu sammeln und sofort zum Hausarzt der Familie zu gehen, als sie schließlich den Knoten in ihrer rechten Brust entdeckte. Das schreckliche Wort wurde in ihrer Gegenwart nie ausgesprochen. Die Brust wurde eilig und unter besänftigenden Worten entfernt.
Rafes Jahre an der Facultad de Medicina de la Universi-dad de la Habana waren schön, so wie sie nur einmal im Leben kommen, zusammengesetzt aus Jugend und Unsterblichkeit und Sicherheit in allem, woran er glaubte.
Von Anfang an war der Krankenhausgeruch für ihn berauschender als die ekelerregende Süße des Preßrückstands von Zuckerrohr. Es war ein Mädchen da, eine Kommilitonin, Paula, klein und dunkel und warm, mit leicht vorstehenden Zähnen, mit nicht ganz vollkommenen Beinen, aber mit einem birnenförmigen Gesäß und einer Wohnung in der Nähe der Universität und einer absolut klinischen Verläßlichkeit in Sachen Geburtenkontrolle. Wurde Bati-sta erwähnt, sah sie finster drein und verlor alles Interesse, daher ließ er es, Batista zu erwähnen - kaum ein Problem. Es gab Zeiten, da er in ihre Wohnung kam und eine kleine Gruppe, nie mehr als ein halbes Dutzend schnell redender Männer und Frauen, antraf, die seltsam verstummte, wenn er in das Zimmer trat, das er dann sofort, ohne verstimmt zu sein, verließ.
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