»Ich werde jemanden auftreiben, Dr. Silverstone«, sagte Miss Fultz. Er hatte nicht gesehen, daß sie in der Tür stand.
Er stand auf.
»Soll ich Ihnen das Frühstück hinaufschicken? Oder Kaffee?« fragte Miss Fultz.
Er schüttelte den Kopf.
»Los. Ich fahre mit Ihnen hinauf«, sagte Meomartino.
Als sie den Lift betraten, sprach ihn Helen Fultz wieder an. »Haben Sie besondere Anweisungen, Dr. Silverstone?«
Er schüttelte den Kopf. »Wecken Sie mich, wenn es Schwierigkeiten geben sollte.« Er merkte, daß er sehr sorgfältig artikulieren mußte.
»Sie wird mich rufen«, sagte Rafe Meomartino verärgert.
»Sicher, Dr. Silverstone. Schlafen Sie gut«, sagte sie, als sei Meomartino gar nicht vorhanden.
Während der Lift hinauffuhr, sah ihn Meomartino neugierig an. »Wie lange sind Sie jetzt hier, sechs, sieben Wochen? Noch keine zwei Monate. Und sie spricht mit Ihnen. Ich habe zwei Jahre dazu gebraucht. Einigen Burschen gelingt es nie. Sechs Wochen sind die kürzeste Zeit, von der ich je gehört habe.«
Adam öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es wurde nur ein Gähnen.
Um 7 Uhr 15 sank er in Schlaf und wurde irgendwann nach 11 Uhr 30 durch ein Trommeln an seiner Zimmertür geweckt. Meyerson, der Ambulanzfahrer, stand draußen und sah ihn mit freundlicher Verachtung an.
»Nachricht aus dem Büro, Doktor. Sie haben auf Ihren Aufruf nicht reagiert.«
Adams Kopf tobte. »Herein«, flüsterte er, sich die Schläfen reibend. »Gottverfluchter Traum.«
Meyerson sah ihn scharf mit neuem Interesse an. »Worum ging's?«
Er und Gaby Pender waren gestorben. Sie hatten einfach aufgehört, lebendig zu sein, waren jedoch nirgendwohin gegangen; es hatte sich nichts geändert, es war weder ein Leben nach dem Tod, noch auch kein solches.
Meyerson hörte interessiert zu.
»Sie haben keine Zahlen geträumt?«
Adam schüttelte den Kopf. »Was wollen Sie mit Zahlen?«
»Ich bin ein Mystiker.«
Ein Mystiker? »Was geschieht mit der Seele nach dem Tod, Maish?«
»Wie gut kennen Sie Ihren Talmud?«
»Das Alte Testament?«
Meyerson sah ihn sonderbar an. »Nein. Jesus Christus, wo sind Sie in die hebräische Schule gegangen?«
»Ich habe keine besucht.«
Der Ambulanzfahrer seufzte. »Ich weiß ja nicht viel, aber soviel weiß ich. Der Talmud ist das Buch der alten Gesetze. Darin heißt es, daß die guten Seelen unter Jeho-vas Thron gestellt werden.« Er grinste. »Es muß ein verflucht großer Thron sein, oder aber es gibt verdammt wenige, die was taugen.«
»Und die bösen Seelen?« fragte Adam unwillkürlich.
»An den entgegengesetzten Ecken der Welt stehen zwei Engel und spielen Fangball mit den schlechten Kerlen.«
»Sie ziehen mich auf.«
»Nein. Schmeißen die armenmomsers hin und her.« Meyerson erinnerte sich an seinen Auftrag. »Hören Sie, unten ist ein R-Gespräch aus Pittsburgh. Wenn Sie es annehmen, wählen Sie die Zentrale ...« Er sah auf einem Zettel nach. »... Apparat 284.«
O Gott.
»Danke. He!« Er rief ihn zurück. »Können Sie mir wechseln?«
»Nur mein Schmu-Geld.«
»Was?«
»Meinen Spieleinsatz. Pokergeld.«
»Oh, geben Sie mir etwas davon ab?« Er reichte ihm zwei Noten und erhielt dafür Silbermünzen.
»Nur Sie und das Weibsbild in dem Traum? Keine Zahlen?«
Adam schüttelte den Kopf.
»Das sind zwei Leute. Ich werde 222 spielen. Kleines Lotto. Wollen Sie, daß ich einen halben Dollar für Sie setze?«
So etwas nennt sich Mystiker. »Nein.«
»Vielleicht 284, den Apparat der Zentrale?«
»Nein.«
Maish zuckte die Achseln und ging. Adams Kopf schmerzte, und sein Mund war trocken, als er zu dem Wandtelephon in der Halle ging.
Einmal mußte es ja kommen, dachte er.
Endlich ist er von einer Brücke gestürzt. Oder hinuntergesprungen.
Oder er ist vielleicht in einem Krankenhaus, möglicherweise verbrannt wie Mr. Grigio. Es passiert jeden Tag, daß Kinder Betrunkene anzünden.
Aber der Anruf kam von seinem Vater persönlich, sagte die Telephonistin. Fünfmal ein 25-Centstück, ein 5- und ein 10-Centstück.
»Adam? Bist du's, mein Sohn?«
»Was ist los, Paps?«
»Nun, ich brauche ein paar Hunderter. Ich will, daß du sie mir beschaffst.«
Erleichterung und Zorn, wie eine Kinderschaukel.
»Ich habe dir das letzte Mal Geld gegeben. Deshalb bin ich auch wie ein Vagabund hier hergekommen und mußte mir selbst Geld leihen, einen Vorschuß vom Krankenhaus.«
»Ich weiß, daß du selbst keines hast. Ich habe gesagt: beschaff es mir. Hör zu. Borg es dir wieder aus.«
»Wozu brauchst du es?«
»... krank wie ein Hund.«
Plötzlich war es ganz leicht. Er mußte betrunken sein, sonst hätte er nicht so plump gelogen. Nur nüchtern war er gerissen und gefährlich. »Geh in die Medical School und sag Maury Bernhardt - Dr. Bernhardt -, daß ich dich schicke. Er wird mich anrufen, und ich sage ihm, daß er dir alle Pflege angedeihen lassen soll, die du brauchst.«
»Ich brauche Geld, das Geld.«
Es hat eine Zeit gegeben, dachte Adam, da hätte ich etwas versetzt, nur damit du es bekommst.
»Von mir bekommst du nichts mehr.«
»Adam -«
»Wenn du stockbesoffen bist, und es klingt ganz danach, dann werde nüchtern und such dir Arbeit. Ich schicke dir zehn Dollar Zehrgeld.«
»Adam, tu mir das nicht an. Sei barmherzig, Sohn ...« Das Schluchzen kam prompt wie auf ein Stichwort. Er war
geschickt; er konnte weinen, einfach weil er sich vor die Wirklichkeit gestellt sah. Lachen zu imitieren war schwieriger.
Adam wartete, bis der Anfall vorbei war, und wurde um eine Spur nachgiebiger. »Ich lege noch fünf drauf. Fünfzehn Dollar, aber das ist alles.«
Sein Vater schneuzte sich gemächlich in Pittsburgh auf Kosten der Zusatzgebühr für Ferngespräche. Als er wieder sprach, lag die alte Arroganz wieder in seiner Stimme. »Ich habe ein Zitat für deine Sammlung, du Dampfplauderer.«
»Paps .« Aber dann wartete er aufmerksam.
»Schade, daß du klüger geworden bist, schade, daß du größer geworden bist . Verstanden?«
Adam wiederholte es.
»Ja«, sagte Myron Silberstein und legte auf. Oh, der alte Schurke, wie er den großen Abgang liebte!
Adam stand mit dem Hörer am Ohr da und wußte nicht, sollte er lachen oder weinen, die Augen geschlossen gegen das beharrliche Dröhnen im Kopf, das immer lauter wurde. Er spürte, wie er wegen seiner Gedanken von dem Engel gepackt, hochgehoben, durch die eisige Finsternis geschleudert, von den schrecklichen wartenden Händen aufgefangen und wieder zurückgeschleudert wurde. Als er den Hörer auflegte, läutete das Telephon sofort wieder, und gehorsam warf er die von der Zentrale geforderten zusätzlichen dreißig Cents ein.
Er ging wieder zu Bett, aber an Schlaf war nicht zu denken. Er kannte das Zitat nicht. Schließlich gab er es auf, zog sich an und ging in die Krankenhausbibliothek, um in Bartletts »Zitatenschatz« nachzuschlagen. Das Zitat stammte von Aline Kilmer, deren Gatte Joyce schon früh, als sie sich vermutlich noch immer liebten, getötet worden war. Es standen noch zwei Zeilen dabei:
Schade, daß du klüger geworden bist, schade, daß du größer geworden bist. Mir warst du lieber, als du noch dumm warst, mir warst du lieber, als du noch klein warst.
Der Stich saß, wie sein Vater es beabsichtigt hatte. Ich sollte ihn einfach vergessen, dachte er, ihn aus meinem Leben streichen.
Statt dessen setzte er sich hin, schrieb einen kurzen Brief, legte die fünfzehn Dollar bei und sandte ihn mit einer Flugpostmarke ab, die er im Schwesternzimmer stahl, während Helen Fultz so tat, als bemerkte sie es nicht.
Gaby Pender.
Sie hatte ihn hypnotisiert, mit ihrer Sonnenbräune am ganzen Körper und mit ihrer saftigen Pflaume. Er dachte ständig an sie, rief sie zu oft an. Sie war beim Studentischen Gesundheitsdienst gewesen, erzählte sie, als er fragte; der Knoten hatte sich als ein Nichts herausgestellt, es war nicht einmal ein Knoten, nur ein Muskel, eine Einbildung. Dankbar sprachen sie über anderes. Er wollte sie wiedersehen, so bald wie möglich.
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