Es entstand eine Pause. »Sie kennen Gaby nicht sehr gut, nicht wahr?« sagte die Stimme.
»Wo auf der Esplanade?«
»Neben dem Podium der Musikkapelle, das wie eine Muschel geformt ist. Kennen Sie es?«
Er kannte es nicht, wohl aber der Taxilenker. »Heute abend gibt's kein Konzert«, sagte der Taxilenker.
»Ich weiß, ich weiß.«
Als er aus dem Taxi stieg, ging er vom Storrow Drive über das weiche Gras in die Dunkelheit hinein. Zuerst dachte er, sie sei nicht da, dann aber sah er sie ziemlich weit vorne auf ihrer Decke unter einem Laternenpfahl sitzen, als sei er eine schützende Tanne.
Als er sich neben sie auf die Decke fallen ließ, lächelte sie ihn warm an, und er vergaß, daß er müde war.
»War es etwas Welterschütterndes, dessentwegen Sie mich fast sitzen ließen?«
»Ich bin soeben erst fertiggeworden. Ich war überzeugt, daß Sie nicht warten würden.« Er wies auf seinen Ärztekittel. »Ich habe mir nicht einmal Zeit genommen, mich umzuziehen.«
»Ich bin froh, daß Sie schließlich doch gekommen sind. Sind Sie hungrig?«
»Am Verhungern.«
»Ich habe Ihre belegten Brote verschenkt.«
Er sah sie an.
»Sie sind nicht aufgetaucht. Da sind drei hochaufgeschossene Schuljungen dahergekommen, und sie haben mich nicht geschändet oder sonst etwas. Einer war ein lieber kleiner Kerl, dem herausrutschte, daß sie kein Geld fürs Abendessen hätten. Hier ist eine Pflaume.«
Er nahm und aß sie, weil ihm nichts Charmantes einfiel, das er hätte sagen können. Die Pflaume war peinlich saftig. Er bekleckerte sich und fühlte sich im Nachteil, wo er doch diesem Mädchen Eindruck machen wollte. Ihre Zimmergenossin hatte, während er fast krank war vor Sehnsucht, sie wiederzusehen, absolut recht gehabt: er kannte sie überhaupt nicht; praktisch war er nur drei Stunden mit ihr beisammen gewesen, eine davon mitten in einer Gesellschaft in dem überfüllten Wohnzimmer von Herb Shagers Schwester in Atlanta.
»Schade, daß Sie die Symphonie versäumt haben«, sagte sie. »Kommt das häufig vor?«
»Nicht ganz so häufig«, sagte er, weil er sie nicht abschrecken wollte.
Er legte sich auf die Decke zurück. Später erinnerte er sich daran, daß er mit ihr über Musik und ihren Lehrplan in Psychologie gesprochen hatte und ihm dann die Augen zugefallen waren. Als er sie wieder öffnete, merkte er, daß er geschlafen hatte, wußte jedoch nicht, wie lange. Sie saß da, blickte zum Fluß hinüber und wartete geduldig. Wie hatte er dieses Gesicht nur vergessen können. Falls die Nase das Ergebnis einer Schönheitsoperation war, hatte sich das Geld dafür gelohnt. Die Augen waren braun, jetzt still, aber sehr lebendig. Ihr Mund war vielleicht etwas groß, die Oberlippe dünn und deutete auf Bissigkeit, die Unterlippe üppig. Das dunkelblonde Haar, das in dem Laternenlicht schimmerte, hatte Sonnenstreifen. Ein Muttermal saß unter dem linken Auge und betonte den Backenknochen. Ihre Züge waren nicht regelmäßig genug, um sie zu einem wirklich hübschen Mädchen zu machen. Sie war zwar sehr klein, aber sexuell zu anziehend, um das Prädikat »nett« nett zu verdienen. Etwas zu dünn, entschied er.
»Das ist die tiefste Sonnenbräune, die ich seit langem gesehen habe. Sie müssen Ihr Leben am Strand verbringen«, sagte er.
»Ich habe eine Bestrahlungslampe. Drei Minuten täglich, das ganze Jahr hindurch.«
»Auch im Sommer?«
»Aber sicher. Mehr Abgeschlossenheit in meinem Schlafzimmer.«
Es würden keine weißen Flecken oder Trägerstreifen vorhanden sein. Er spürte eine Schwäche in den Knien.
»Einer der Jungen an der Uni behauptet, meine Leidenschaft für körperliche Wärme rühre daher, daß ich aus einer zerrütteten Familie komme. Ich liebe heiße Tage.«
»Ihr analysiert einander im Psychologieunterricht?«
Sie lächelte. »Nach dem Unterricht. Ständig.« Sie legte sich neben ihn auf die Decke zurück. »Sie riechen nach starken männlichen Säften«, sagte sie, »und als wären Sie bei einem Brand gewesen.«
»Gott, so schlimm ist es? Ich hatte vor, duftend wie eine Blume zu Ihnen zu kommen.«
»Wer will schon, daß ein Mann wie eine Blume riecht?«
Ihre Köpfe waren einander auf der Decke sehr nahe, und es bedurfte nur geringer Anstrengung, sie zu küssen.
Er küßte das Muttermal.
Aus dem Transistor klang leise das Leitmotiv aus »Sonntags nie«.
»Können Sie Hasapiko?«
»Ich möchte es gern lernen«, sagte er wollüstig.
»Den griechischen Tanz.«
»Oh, den. Nein.«
Er erhob sich unwillig, als sie darauf bestand, ihm die Schritte zu zeigen. Er hatte den angeborenen Rhythmus eines guten Tauchers und lernte den Grundschritt schnell. Sie hielten einander an den Händen, tanzten zu dem trägen Rhythmus und dann, als die Musik aus dem Apparat zu einem Crescendo anschwoll, immer wilder. Sorbas und seine Frau auf dem weichen Gras der Esplanade, aber natürlich machte er einen Fehler, und sie stürzten, lachend und atemlos, und er küßte sie wieder und fühlte ihre Wärme unter seinem Mund, in seinen Armen.
Es war hübsch. Sie lagen da, ohne zu reden und mit einem Gefühl der Geborgenheit, während hinter ihnen der
Verkehr über den Storrow Drive donnerte und der Fluß vor ihnen bis zu den Lichtern des Memorial Drive auf dem Cambridge-Ufer dunkel dahinzog; in seiner Mitte schwebte ein verschwommenes weißes Segel.
Natürlich wurden sie unter ihrem Laternenpfahl von den Scheinwerfern des Bootes erfaßt.
Das Segel zog weiter. »Ich möchte eine Bootsfahrt machen«, sagte er.
»Im Segelklub, gleich hinter der Konzertmuschel, gibt es ein paar Ruderboote.«
Er streckte die Hand aus, sie ergriff sie, und sie liefen zum Dock.
Die Ruder fehlten, aber er half ihr trotzdem in ein Boot. »Wir können so tun, als sei ich Odysseus«, sagte er, noch immer in hellenischer Stimmung. »Du bist eine Sirene.«
»Nein. Ich bin einfach nur Gabrielle Pender.«
Sie saßen im Heck, mit dem Gesicht zum gegenüberliegenden Ufer und den Lichtern, die eigentlich die Stimmung hätten stören müssen, es aber nicht taten, Cambridge Electric und die Electronic Corporation of America und alle anderen. Wieder küßte er sie, und als er sich von ihr löste, sagte sie: »Er war verheiratet.«
»Wer?«
»Odysseus. Erinnerst du dich an die arme Penelope, die daheim in Ithaka wartete?«
»Er hatte sie zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen. Also schön, dann bin ich jemand anderer.« Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Gott, roch sie gut. Ihr kaum merkbarer Atem wurde schneller, als er ihren Hals küßte, und ihr zarter Puls trommelte kleine Hammerschläge auf seinen Lippen. Das Boot hob und senkte sich auf den winzi-gen Wellen, die von der Flußmündung zu ihnen kamen und unter dem Dock plätscherten.
»Ah, Adam«, sagte sie zwischen Küssen. »Adam Silver-stone, wer bist du jetzt? Wer bist du wirklich?«
»Finde es heraus und laß es mich wissen«, sagte er.
Die Stechmücken trieben sie an Land. Er half ihr die Dek-ke zu falten, und sie verstauten sie in ihrem Wagen, einem arg mitgenommenen blauen Plymouth Convertible Baujahr 1963, der abseits vom Storrow Drive geparkt war. Sie gingen in eine Cafeteria in der Charles Street, saßen an einem Tisch an der Wand und tranken Kaffee.
»War es ein Unfall, der dich im Krankenhaus festhielt?«
Er erzählte ihr von Grigio. Sie war eine gute Zuhörerin und stellte intelligente Fragen.
»Ich fürchte mich nicht vor Feuer oder Ertrinken«, sagte sie.
»Das heißt, daß du dich doch vor etwas fürchtest.«
»Wir hatten viele Krebsfälle in der Familie, auf beiden Seiten. Meine Großmutter ist vor kurzem daran gestorben.«
»Das tut mir leid. Wie alt war sie?«
»Einundachtzig.«
»Auf das würde ich mich einlassen.«
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