Und er konnte aber auch nicht - wurde ihm plötzlich erschreckend klar -, nachdem er sein ganzes Leben lang den Tod bekämpft hatte, sich jetzt selbst zum Tod verhelfen.
Als er das Krankenhaus erreichte, fand er Kender noch immer im Nierenlabor, wo er mit dem jungen Silverstone Röntgenaufnahmen durchsah.
»Ich möchte an die Maschine zurück«, sagte er.
Kender studierte einen Film, den er hochhielt. »Sie sind alle für den Rest des Abends besetzt«, sagte er. »Ich kann Sie erst morgen anschließen.«
»Wann?«
»Oh, sagen wir, zehn Uhr. Wenn Sie mit der Maschine fertig sind, will ich, daß Sie eine Bluttransfusion bekommen.«
Es war eine Feststellung, keine Bitte; Kender sprach zu einem Patienten, erkannte Longwood.
»Wir glauben nicht, daß die Maschine auf die Dauer die Lösung für Sie ist«, sagte Kender. »Wir werden versuchen, Ihnen eine Niere zu verschaffen.«
»Ich weiß, wie schwer es ist, Nierenempfänger zu wählen«, sagte Dr. Longwood steif. »Ich will keine Begünstigungen.«
Dr. Kender lächelte. »Sie erhalten keine. Ihr Fall wurde auf Grund seines Interesses für Lehrzwecke durch das Transplantationskomitee ausgewählt, aber Sie haben eine seltene Blutgruppe, und natürlich kann es sehr lange dauern, bis wir einen Spender finden. Bis dahin werden Sie zuverlässig zweimal wöchentlich zur Behandlung mit der Maschine hier erscheinen.«
Dr. Longwood nickte. »Gute Nacht«, sagte er.
Draußen vor dem Laboratorium war dank den geschlossenen Türen das Geräusch der Maschine nicht zu hören, und es war still. Er hatte schon fast den Lift erreicht, als er die Tür öffnen und schließen und das Geräusch eiliger Schritte hörte.
Als er sich umdrehte, sah er, daß es Silverstone war.
»Sie haben das hier auf Dr. Kenders Tisch liegengelassen«, sagte Adam und hielt ihm die Phiole mit den Schlaftabletten hin.
Longwood suchte in den Augen des Jüngeren nach Mitleid, fand aber nur wachsames Interesse. Gut, dachte er, der da könnte vielleicht einen Chirurgen abgeben.
»Danke«, sagte er, als er die Flasche entgegennahm. »Ich werde vergeßlich.«
4
ADAM SILVERSTONE
Die Sechsunddreißig-Stunden-Schichten ließen die Tage und Nächte seltsam ineinanderfließen, so daß Silverstone in Zeiten zusätzlicher Arbeit nicht sicher war, ob es draußen dunkel oder hell war.
Er entdeckte, daß das Suffolk County General etwas war, nach dem er unbewußt schon lange gesucht hatte.
Das Krankenhaus war alt und schäbig, nicht so sauber, wie er es gern gehabt hätte; die ungewaschene Armut der Patienten war nervenzermürbend; die Verwaltung geizte auf üble, kleinliche Art, indem sie zum Beispiel an die Hausärzte nicht oft genug saubere weiße Anzüge ausgab. Aber die Chirurgie, die sie auf der Station praktizierten, war ungeheuer aufregend. Von Anfang an operierte er fast pausenlos, schon in den ersten Monaten, interessantere Fälle verschiedenster Art, als er sie je in Georgia in einem halben Jahr gehabt hatte.
Er hatte ein Gefühl der Entmutigung verspürt, als er zum erstenmal hörte, daß Rafe Meomartino mit der Nichte des Alten verheiratet war, mußte jedoch zugeben, daß die guten Fälle unparteiisch zwischen ihnen aufgeteilt wurden. Zwischen Meomartino und Longwood herrschte jedoch eine unerklärliche Kälte, und er war zu der Erkenntnis gelangt, daß das Verwandtschaftsverhältnis für Rafe eher ein Nachteil war.
Unbehaglich fühlte er sich nur, wenn er den sechsten Stock betrat, den er in einem unbedachten Augenblick zu einem kalten, einsamen Ort gemacht hatte.
Das Schlimmste an der ganzen Seifenepisode war, daß er Spurgeon Robinson wirklich gern hatte.
Er war eines Morgens ins Badezimmer gekommen, in dem sich der Spitalsarzt eben rasierte, und sie hatten über Baseball gesprochen, während er aus seinen Kleidern und unter die Dusche stieg.
»Zum Teufel«, murmelte er.
»Was ist los?«
»Verdammt nochmal, ich habe keine Seife.«
»Nehmen Sie meine.«
Adam hatte die weiße Seife in Robinsons Hand angesehen und den Kopf geschüttelt. »Nein, danke.«
Unter dem warmen Sprühregen verflog sein Ärger, und einige Minuten später nahm er - gedankenlos - die dünne Scheibe gebrauchter Seife aus der Seifenschüssel und seifte seinen Körper damit ein.
Als Robinson ging, hatte er einen Blick in die Dusche geworfen. »Ah, ich sehe, Sie haben ja doch eine gefunden«, sagte er.
»Ja«, sagte Adam in plötzlichem Unbehagen.
»Das ist dasselbe Stück, das ich gestern benützt habe, um meinen schwarzen Arsch zu waschen«, hatte Spur liebenswürdig gesagt.
Geldmangel bedrohte ihn nicht mehr. Er wurde Nachtarbeiter, dank einem Freundschaftsdienst des dicken Anästhesisten, den die OP-Schwestern den »fidelen grünen Riesen« nannten, und den er im Stillen den »Dicken« nannte, der jedoch schlicht und einfach Norman Pome-rantz hieß. Eines Tages schlenderte Pomerantz in das Ärztezimmer und fragte, während er sich Kaffee einschenkte, ob jemand daran interessiert sei, einige Nächte in der Woche Dienst in der Unfallstation eines Gemeindekrankenhauses zu machen, westlich von Boston.
»Es ist mir egal, wo es ist«, sagte Adam, noch bevor sonst jemand antworten konnte. »Wenn es was einbringt, mache ich es.«
Pomerantz lachte. »Es ist in Woodborough. Sie werden von der Krankenhausversicherung bezahlt.«
Also verhökerte er seinen Schlaf und war mit dem Handel durchaus nicht unzufrieden. Am ersten dienstfreien Abend im Suffolk County General nahm er die Hochbahn zum Park Square und einen Bus nach Woodborough; es war ein wunderliches New-England-Fabriksdorf, das sich erst vor kurzem in einen sich ständig ausbreitenden und dicht bevölkerten Pendlervorort verwandelt hatte. Das Krankenhaus war gut, aber klein, die Arbeit kaum anregend - Schwellungen und Prellungen, Schrammen und Schnitte; der komplizierteste Fall, der ihm unterkam, war eine Colles-Fraktur im Handgelenk - aber finanziell war es wunderbar. Am folgenden Abend saß er im Bus nach Boston, als ihm plötzlich einfiel, daß er solvent war, und es erfüllte ihn fast mit Ehrfurcht. Natürlich war das Geld direkt aus seiner Haut geschnitten; er war sechzig Stunden lang nicht mehr im Bett gewesen - sechsunddreißig Stunden Dienst im Suffolk County General und anschließend weitere vierundzwanzig Stunden in Woodborough, aber das plötzliche Gefühl von Wohlstand war es wert. Als er in sein Zimmer im Krankenhaus zurückkehrte, schlief er acht Stunden durch und erwachte mit leerem Kopf, pelzigem Mund, aber - seltsamerweise - reich.
Er absolvierte die Busfahrt nach Woodborough jedesmal, wenn er dienstfrei war. Als er immer erschöpfter wurde, gewöhnte er sich gierige kleine Nickerchen an -auf Krankentragen, im Ärztezimmer sitzend, einmal sogar an eine Korridorwand gelehnt, und er genoß die Augenblicke des Schlafs wie ein Kind, das an einer Kugel aus hartem Zuckerwerk lutscht.
Er fühlte sich noch einsamer als gewöhnlich. Eines Nachts lag er auf seinem Bett und hörte Spurgeon Robinson auf der Gitarre spielen. Er hatte nicht gewußt, daß es solche Musik gab. Sie erzählte ihm eine Menge über den Spitalsarzt. Nach einer Weile stand er auf, ging in einen Spirituosenladen und kaufte eine Sechserpackung Bier. Als er anklopfte, öffnete Robinson die Tür, stand einen Augenblick wortlos da und sah ihn an.
»Beschäftigt?« fragte Adam.
»Nein. Kommen Sie herein.«
»Ich dachte, wir könnten wieder auf das Dach hinaus und einen Schluck trinken.«
»Verrückte Idee, aber -«
Ganz perfekter Gastgeber, öffnete Robinson das Fenster, ergriff den Papiersack und ließ Adam als ersten über das Fensterbrett steigen.
Sie tranken und plauderten belangloses Zeug, dann aber ging ihnen plötzlich der Faden aus und sie fühlten sich unbehaglich, bis Adam rülpste und Spur wild anstarrte.
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