»Was soll daran neu sein, Charlie? Seit deinem achten Lebensjahr denkst du, dass dich jemand verarschen will.«
»Stimmt ja auch. Wahrscheinlich. Aber diesmal ist es real. Es könnte real sein.«
»Hey, das sind Rindfleischwürstchen! Sophie ist gar keine Schreckse.«
»Schickse!«
»Egal.«
»Jane, du bist überhaupt keine Hilfe bei meinem Problem.«
»Welches Problem? Hast du ein Problem?«
Charlies Problem bestand darin, dass sich die Auswüchse seiner Betamännchen-Phantasie wie Bambussplitter unter seine Fingernägel bohrten. Während Alphamännchen oft mit überlegenen physischen Attributen aufwarten können (Größe, Kraft, Schnelligkeit, Aussehen – im Laufe der Äonen durch das Überleben der jeweils Stärksten selektiert) und meist alle Mädchen abbekommen, überlebten die Gene des Betamännchens nicht deshalb, weil es sich Widrigkeiten entgegenstellte und überwand, sondern weil es sie voraussah und mied. Während also die Alphamännchen den Mastodons nachjagten, sah das Betamännchen voraus, dass es möglicherweise schief gehen konnte, wenn man etwas, das im Grunde nichts weiter als ein böser, behaarter Bulldozer war, mit einem spitzen Stock bedrohte, und deshalb blieb es im Lager zurück, um die trauernden Witwen zu trösten. Machten sich Alphamännchen auf den Weg, benachbarte Stämme zu unterwerfen, Beute zu machen und Köpfe zu sammeln, sahen die Betamännchen voraus, dass der Zustrom weiblicher Sklaven im Fall eines Sieges einen Überschuss an jungen, hübschen, unbemannten Frauen mit sich bringen würde, die nichts anderes zu tun hatten, als die Köpfe zu pökeln und die Beute zu sortieren. Manche von ihnen fanden Trost in den Armen eines Betamännchens, das schlau genug war, zu überleben. Im Fall einer Niederlage… nun, da kam wieder die Sache mit den Witwen zum Tragen. Das Betamännchen ist selten das Stärkste oder Schnellste, doch da es die Gefahr vorhersieht, ist es seinem Konkurrenten, dem Alphamännchen, zahlenmäßig weit überlegen. Die Welt wird von Alphamännchen regiert, doch drehen sich ihre Räder um die Achse des Betamännchens.
Das Problem (Charlies Problem) bestand darin, dass die Phantasie des Betamännchens angesichts der modernen Gesellschaft überflüssig geworden war. Es war wie mit den Reißzähnen des Säbeltigers oder dem Testosteron der Alphamännchen: Es gab einfach viel mehr Betamännchen-Phantasie, als man sinnvoll gebrauchen konnte. Entsprechend wurden viele Betamännchen Hypochonder, Neurotiker und Paranoiker oder gerieten in Abhängigkeit von Pornos oder Videospielen.
Denn während sich die Phantasie des Betamännchens entwickelte, um Gefahren zu meiden, ermöglichte sie ihm heutzutage einen imaginären Zugang zu Macht, Geld und langbeinigen Modelweibchen, die ihm in Wahrheit nicht mal in die Nieren treten würden, wenn sie ein Krabbeltier von ihrem Schuh abstreifen wollten. Die reichhaltige Phantasie des Betamännchens mag oft in die Wirklichkeit hinüberlappen und sich in geradezu genialischem Maß in Wahnvorstellungen manifestieren. Tatsächlich halten sich zahlreiche Betamännchen – im Widerspruch zu empirischen Erkenntnissen – für Alphamännchen und wurden von ihrem Schöpfer mit ausgeprägtem Charisma und einiger Verschlagenheit beschenkt, was zwar von der Idee her der Knaller sein mag, für Frauen aus Fleisch und Blut jedoch absolut nicht zu erkennen war. Jedesmal, wenn sich ein Supermodel von seinem Rockstar-Gatten scheiden lässt, freut sich das Betamännchen im Stillen (oder genauer gesagt: spürt es eine Woge ungerechtfertigter Hoffnung aufsteigen), und jedesmal, wenn ein hübscher Filmstar heiratet, hat das Betamännchen das Gefühl, eine weitere Chance verpasst zu haben. Ganz Las Vegas – mit seinem Plastikprunk, dem Reichtum zum Mitnehmen, seinen vulgären Türmen und Kellnerinnen mit utopischen Brüsten – basiert auf den Wahnvorstellungen des Betamännchens.
Die Selbsttäuschung des Betamännchens hatte auch eine nicht unerhebliche Rolle gespielt, als Charlie seine Rachel zum ersten Mal ansprach, an jenem regnerischen Februartag vor fünf Jahren, als er – um dem Wetter zu entkommen – einen Laden betrat, der Ein hübscher, heller Ort für Bücher hieß, und Rachel ihm ein scheues Lächeln schenkte, über einen Stapel von Carson McCullers hinweg, die sie gerade einsortierte. Sie schien zu lächeln, weil er vor jungenhaftem Charme nur so triefte, während es in Wahrheit daran lag, dass er einfach nur triefte.
»Sie tropfen«, sagte sie. Sie hatte blaue Augen, helle Haut und dunkle Locken, die ihr Gesicht umrahmten. Sie betrachtete ihn aus dem Augenwinkel, was sein Betamännchen-Ego anspornte.
»Ja, gern«, sagte Charlie und trat einen Schritt näher.
»Soll ich Ihnen ein Handtuch holen oder so?«
»Ach was, das bin ich gewohnt.«
»Sie tropfen auf Cormac McCarthy.«
»’Tschuldigung.« Charlie wischte All die schönen Pferde mit dem Ärmel ab, während er zu erkennen versuchte, ob sie unter dem labberigen Pulli und den Cargo-Hosen eine hübsche Figur hatte. »Kommen Sie oft hierher?«
Rachel brauchte einen Moment, bis sie reagierte. Sie trug ein Namensschild, räumte Bücher in Regale und war ziemlich sicher, dass sie diesen Typen schon mal im Laden gesehen hatte. Also konnte er nicht ganz blöd sein, sondern eher schlau. Mehr oder weniger. Unwillkürlich lachte sie.
Charlie zuckte mit den feuchten Schultern und lächelte. »Ich bin Charlie Asher.«
»Rachel«, sagte Rachel. Sie gaben sich die Hand.
»Rachel, würden Sie irgendwann mal mit mir einen Kaffee oder irgendwas trinken?«
»Das kommt ganz darauf an, Charlie. Vorher müssen Sie mir ein paar Fragen beantworten.«
»Selbstverständlich«, sagte Charlie. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hätte ich da auch ein paar Fragen.« Er dachte » Wie siehst du nackt aus? « und » Wann kann ich es mir ansehen? «
»Also gut.« Rachel legte Die Ballade vom Traurigen Café beiseite und zählte ihre Finger ab.
»Haben Sie einen Job, ein Auto und eine Wohnung? Und sind die letzten beiden dasselbe?« Sie war fünfundzwanzig und schon eine Weile Single. Sie hatte gelernt, ihre Bewerber auszusortieren.
»Äh – ja, ja, ja und nein.«
»Ausgezeichnet. Sind Sie schwul?« Sie war schon eine ganze Weile Single in San Francisco.
»Habe ich Sie auf einen Kaffee eingeladen oder nicht?«
»Das hat nichts zu bedeuten. Ich kenne Typen, die erst gemerkt haben, dass sie schwul sind, nachdem wir schon ein paar Mal ausgegangen waren. Scheint meine Spezialität zu sein.«
»Wow. Sie machen wohl Witze.« Er musterte sie von oben bis unten und kam zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich eine tolle Figur unter ihren weiten Sachen hatte. »Ich hab schon mal daran gedacht, aber das ist nichts für mich…«
»Korrekte Antwort. Okay, ich gehe mit Ihnen einen Kaffee trinken.«
»Nicht so hastig. Was ist mit meinen Fragen?«
Rachel stemmte ihre Fäuste in die Hüften, seufzte und verdrehte die Augen. »Okay. Schießen Sie los.«
»Ich habe eigentlich keine Fragen. Sie sollten nur nicht denken, ich wäre leicht zu haben.«
»Und deshalb haben Sie mich schon nach dreißig Sekunden gefragt, ob ich mit Ihnen ausgehen möchte?«
»Kann man es mir zum Vorwurf machen? Da standen Sie vor mir: dieser Blick, dieses Lächeln, dieses Haar, so trocken… und umgeben von guten Büchern…«
»Fragen Sie!«
»Glauben Sie, es könnte sein… also, wenn wir uns besser kennen, dass Sie mich vielleicht irgendwann mögen? Ich meine, halten Sie das für möglich?«
Es machte nichts, dass er sie bedrängte, egal, ob er nun schlau oder tollpatschig war. Sie konnte sich seines charmelosen Betamännchen-Charmes einfach nicht erwehren und wusste, was sie antworten würde. »Keine Chance«, log sie.
»Sie fehlt mir«, sagte Charlie und wandte sich von seiner Schwester ab, als müsste er sich dort in der Spüle ganz dringend etwas ansehen. Seine Schultern bebten, und Jane ging zu ihm und nahm ihn in die Arme, als er auf die Knie sank.
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