»Hattest du denn Krach mit deiner Mutter?« fragte Thomas.
»Furchtbar«, sagte Anna.
»Worüber?«
»Über alles. Ich glaube, wir passten nicht zusammen. Sie war mir zu ausgeflippt. Arbeitete unregelmäßig, telefonierte stundenlang mit Freundinnen, statt mir bei den Aufgaben zu helfen, ließ das Geschirr stehen, ließ die Wäsche liegen, war eine schöne und attraktive Frau, brachte auch gelegentlich Verehrer nach Hause, von denen aber keiner blieb. Die Spießige war ich. Eigentlich war ich die Mutter und sie die Tochter, und ich fing schon bald an, sie zu kritisieren, und das ertrug sie schlecht.«
Anna erinnerte sich, wie sie einmal, als sie nachts erwacht war und zur Mutter wollte, einen fremden Mantel im Gang hängen sah und es aus dem Schlafzimmer stöhnen hörte. Da schrieb sie auf ein Blatt Papier: »Mami muss mit mir schmusen, nicht mir dir, du Aff«, und legte es auf die Schuhe unter dem Mantel. »Mir« hatte sie rot unterstrichen. Ihre Mutter hatte ihr dann vorgeworfen, der Mann sei nur wegen ihr nicht mehr gekommen und es hätte vielleicht eine Freundschaft daraus werden können. Wenn er wegen so etwas böse werde, werde er sowieso kein richtiger Freund, hatte Anna darauf gesagt.
»Weißt du, was das Schlimmste war, das mir meine Mutter sagen konnte?«
Natürlich wusste es Thomas nicht.
»›Du warst doch mein Wunschkind.‹ Wenn das kam, redete sie nachher mindestens drei Stunden nicht mehr mit mir.«
»Aber dein Vater?«
»Kannte ich nicht wirklich. Sie ließen sich scheiden, als ich zwei war. Meine Mutter bekam das Sorgerecht, und der Vater war wohl froh, dass er sich nicht mit mir abgeben musste. Ich sah ihn zum erstenmal richtig an Mamas Beerdigung.«
»Und?«
»Und nichts. Ich mochte ihn nicht. So traurig wie an dem Abend war ich nie. Die Mutter verloren und den Vater auch.«
»Hätt ich dich doch in die Arme nehmen können«, sagte Thomas und zog sie an sich.
»Du nimmst mich jetzt in die Arme, das ist schön genug.«
Thomas kam es plötzlich unwahrscheinlich vor, dass er mit einer so schönen und begehrenswerten Frau im Bett lag.
»Weißt du was?« sagte er, »ich bin glücklich.«
»Weißt du was?« sagte Anna, »ich auch. Aber ich glaube, ich muss jetzt schlafen.«
»Ich werde dich bewachen«, sagte Thomas.
»Da bin ich froh«, murmelte Anna und drehte sich von ihm weg, »aber wehe, wenn du einschläfst dabei.«
Thomas kuschelte sich an ihren Rücken und hielt seinen Arm so über ihr, dass er mit der Hand ihre Haare spürte.
Früher hatte er sich immer so etwas vorgestellt in seinen Phantasien, dass einmal eine Frau mit einem schweren Schicksal Zuflucht bei ihm suchen würde, und er würde dann seine ganzen Kräfte für sie einsetzen. Allerdings hatte er sich die Frau schwächer vorgestellt, schiffbrüchig fast, und er der Retter.
Anna war nicht schwach, im Gegenteil, sie wusste genau, was sie wollte, und sie wusste es auch ohne ihn. Woher nur? Sie war vier Jahre jünger als er. Vor vier Jahren hatte er sein Medizinstudium abgebrochen und sich entschieden, statt dessen Umweltnaturwissenschaften zu studieren. Es hatte viel gebraucht, bis er so weit gewesen war.
Thomas versuchte sich vorzustellen, er wäre nur mit seiner Mutter aufgewachsen, als einziges Kind. Kein Türmchenhaus, kein Erlenbach, keine Mirjam, sondern eine Dreizimmerwohnung in einem reizlosen Außenquartier Zürichs, Schwamendingen oder Oerlikon. Über Mittag im Kinderhort, Winterferien in einem städtischen Schullager im Wallis. Und dann, ein Jahr vor der Matur, wäre seine Mutter an einer qualvollen Krankheit gestorben, und an der Trauerfeier wäre irgendein mürrischer Prokurist auf ihn zugetreten, hätte ihm die Hand gereicht und gesagt: »Ich bin dein Vater.«
Er konnte es nicht wirklich. Aber die Frau an seiner Seite, die bereits tief und regelmäßig atmete, brauchte sich das nicht vorzustellen, sie hatte es erlebt. Nochmals stieg eine Welle von Glück in ihm hoch, dass er ausgerechnet diese Frau lieben durfte und dass sie ihn auch liebte. Dass er sie beschützen wollte, hatte er im Spaß gesagt vorhin, aber es war ihm ernst. Bloß wovor? Hatte sie nicht das Schlimmste schon hinter sich?
Was hätte ihm denn gefehlt ohne seinen Vater? Die Bergtouren, auf den Piz Languard, auf den Piz Tschierva, hätte er die mit seiner Mutter auch gemacht? Seine Mutter ging gerne durch Täler, einen schäumenden Bergbach endang, über Pässe und dann einen andern schäumenden Bergbach entlang wieder hinunter, aber ein Berggipfel war immer Männersache gewesen, seit Thomas zwölf oder dreizehn gewesen war.
Gespräche konnte er mit seiner Mutter eher besser fuhren, aber die Ernsthaftigkeit, mit der sein Vater seinen Beruf ausübte, und das Selbstverständliche daran, das hatte ihn immer beeindruckt. Schon bald nach seinem Eintritt in die Kantonsschule gab er seinen Berufswunsch mit Arzt an, es kam ihm einfach nichts anderes in den Sinn. Er wollte auch so einer werden, wie sein Vater einer war. Deshalb hatte er den Moment gefürchtet, als er seinen Entschluss bekannt gab, das Medizinstudium abzubrechen, und um so überraschter war er über Vaters Reaktion gewesen. Er hatte nur leicht die Augenbrauen gehoben und gefragt: »Du hast also gemerkt, dass dich die Umwelt stärker interessiert als die Medizin?« Als Thomas zur Antwort gab, ja, das sei so, sagte sein Vater bloß: »Dann ist es in Ordnung. Besser du merkst es jetzt als nach deinem dritten Jahr als Assistenzarzt.«
Darüber war die Mutter erschrocken und hatte den Vater gefragt, ob das heiße, dass er es dann gemerkt habe, worauf Vater nur lachend gesagt hatte: »Das hättest du nicht gedacht, gell?«
Ob er es ernst gemeint hatte oder nicht, wollte er nicht sagen. Aber er fragte Thomas weiterhin am Ende des Monats, wieviel er brauche, und händigte ihm die paar Hunderternoten aus, ohne von ihm zu verlangen, dass er sein Studium selber finanziere.
Und wenn sein Vater nun wirklich ein anderes Lebensziel gehabt hätte? Er war nicht Professor geworden. Das Publizieren sei ihm immer zuwider gewesen, hatte er einmal gesagt. Auch Chefarzt eines Spitals wäre ein höherer Status gewesen als operierender Belegarzt einer Privatklinik. Thomas nahm sich vor, ihn einmal danach zu fragen.
Aber je länger er über seinen Vater nachdachte, desto unvereinbarerwurde dieser mit einem ausstrahlungslosen Blödmann, der einem bei der Beerdigung der Mutter eröffnete, er sei der Vater. Da musste er sich schon seinen eigenen Vater vorstellen, wie er sich aus der Trauergemeinde lösen würde, auf ihn zukäme, der noch am offenen Grab seiner Mutter stünde, ihm den Arm um die Schulter legen würde, um ihm zu sagen, er sei sein Vater.
Doch auch diese Vorstellung war letzdich undurchführbar, denn so wie sein Vater war, gab es schlicht keinen Grund dafür, ihm ein Leben lang zu verheimlichen, dass er sein Sohn war.
Modelle waren das, Denkmodelle, und dennoch nicht anzuwenden auf das eigene Leben. Er war eben Thomas und nicht Anna.
Aber er liebte Anna.
Manuel erwachte, knipste das Licht neben seinem Sofa an und schaute auf die Uhr. Viertel vor vier. Jemand hatte geklopft. Er stand auf, ging zur Tür und öffnete sie. Auf dem Flur war niemand. Auch nicht auf der Treppe zum unteren Stock, von wo das Nachtlicht heraufschien, das sie immer brennen ließen.
»Julia?« fragte er halblaut.
Es blieb still.
Benommen ging er wieder zu seinem Nachtlager zurück. Das Glas auf seinem Tisch war leer. Er hatte zuletzt doch ein Rohypnol geschluckt, es brauchte also ziemlich viel, um ihn zu wecken.
Eigentlich war er sicher, dass es geklopft hatte. Oder hatte er so stark geträumt? Er konnte sich an nichts erinnern.
Er legte sich hin, löschte das Licht und sank sofort wieder in die Schwere seines künstlichen Schlafs.
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