Sie drehte die Seite um.
»Wie viele Zimmer gibt es da, die niemand kennt.«
stand auf der rechten Seite. Die linke war leer.
Sie blätterte weiter und fand Sätze, die sie verwunderten.
»Der König foltert die Prinzessin mit Gesprächen.«
Auch dazu kam ihr der Anlass wieder in den Sinn. Ihr Vater hatte sie gefragt, was sie heute in der Schule gelernt habe, und sie hatte gesagt, dass Hölderlin mit 32 verrückt geworden sei. Er habe Stimmen gehört. Darauf entgegnete ihr Vater, das Hören von Stimmen, die niemand sonst hört, seien Reize, die der Mensch selbst erzeuge und die vom Nervensystem nicht kontrolliert würden oder so ähnlich, jedenfalls verglich er es mit dem Tinnitus, einer seiner Lieblingskrankheiten. Sie hatte dann darauf beharrt, dass Hölderlin die Stimmen wirklich gehört habe, worauf ihr Vater sagte, er habe sie auch wirklich gehört, nur habe er nicht gewusst, dass er sie selbst produzierte, und hätte ihm sein Arzt gesagt, dass er bloß einen Tinnitus habe, wäre er vielleicht nicht verrückt geworden.
Hölderlins Wahnsinn also nichts anderes als ein Fall für den Ohrenarzt? Solche Gespräche hatten sie aufgebracht, weil sie gegen den Vater nicht ankam und vor allem, weil sie das Gefühl hatte, er wolle sie gar nicht verstehen.
»Die Königin fährt ganz allein zur Schule.«
Sie hatte die Mutter immer als berufstätig erlebt. Als Kind hatte sie oft dagegen rebelliert, vor allem wenn man ihr ein Tagesprogramm erläuterte, in der Art von JetztfahrenwirzuerstzuMamimami, dortholichdichamNachmittagwiederabundamAbendgehichmitPapiinsTheaterunddannkommtBarbara. Von ihr war ein Ausspruch überliefert, den sie nach einer solchen Ankündigung getan hatte und der zum Familienzitat wurde: »Ich hab am liebsten Tage wie immer.«
Aber als sie älter wurde, gefiel es ihr zunehmend, dass ihre Mutter nicht eine war, die nichts anderes zu tun wusste, als auf sie zu warten, und mit ihr gab es diese Auseinandersetzungen wie mit dem Vater nicht, wahrscheinlich weil sie dauernd mit jungen Menschen in ihrem Alter zu tun hatte.
»Schau, der Prinzessin zarte Zehen – wird sie die Beine jemals spreizen?«
Oh, das war ein gewagter Satz, Mirjam musste lachen und dachte an Roman, den ersten Freund, mit dem sie herumgeknutscht hatte und der so gern mit ihr schlafen wollte und sie schließlich wieder fallen ließ, weil sie sich nicht dazu entschließen konnte.
Die Angst vor AIDS hatte die ersten Liebeserlebnisse nicht einfacher gemacht. Sie hatte sich damals überlegt, ob ein Mann wohl zuerst ein Ärztliches Zeugnis mit einem Präservativ vorlegen müsse, bevor man ihn zu seinem Geliebten machte.
Die erste Liebesnacht wurde denn auch ein ziemlicher Murks, sie hatte sich mit Oliver bloß eingelassen, weil sie sich ärgerte, dass sie mit 20 immer noch Jungfrau war. Die Beziehung dauerte nicht lange, wie überhaupt keine der Beziehungen, die sie nachher einging, lange dauerte. Zur Zeit hatte sie gar keine. Der Traumprinz, der zärtlich und männlich zugleich sein musste, war noch nicht vor den Toren ihres Palastes aufgetaucht.
Manchmal rätselte sie über die Ehe ihrer Eltern. Dass zwei Menschen so lange zusammenblieben … Wie war Leonces Stoßseufzer? »Heiraten! Das heißt einen Ziehbrunnen leer trinken.« Trotzdem hatte sie den Eindruck, dass sich ihre Eltern liebten, nicht gerade leidenschaftlich, doch die kleinen Gesten und Zeichen von Zärtlichkeit schienen ihr nicht abgenutzt. Ob ihr Vater eine Freundin hatte? Oder gab es einen heimlichen Geliebten ihrer Mutter? Sie konnte es sich nicht recht vorstellen und merkte, dass ihr schon der Gedanke daran peinlich war.
»Der Prinz, er beugt sich über totgeküsste Frösche.«
Das war Thomas, über dessen Interesse an der Naturwissenschaft sie sich manchmal lustig gemacht hatte. Wie gut, dass er wieder eine Freundin hatte, und wie gut, dass es Anna war. Anna war in der zweiten Schauspielklasse, und Thomas hatte sie durch sie kennen gelernt, auf einem Fest in der Schauspielschule. Mirjam mochte Anna sehr. Sie würde in ihrer Abschlussarbeit die Lena spielen.
Und dann ein Satz, fast am Ende des Heftes, bei dem sie stockte, drei Wörter nur:
»Ich bin ich.«
Das sagte ja der König bei Büchner, genau so. Mirjam nahm das Textbuch und suchte die Stelle. »Wenn ich so laut rede, weiß ich nicht, wer spricht, ich oder ein anderer«, sagt er zuvor. Und dann die Klammer »nach langem Nachdenken«, und dann die Einsicht »Ich bin ich.«
Mirjam war perplex. Ihr blaues Palastheft von damals gehörte direkt in Büchners Königreich. Vielleicht könnte sie für ihre Inszenierung sogar Zitate daraus nehmen und sie in das große Buch schreiben, etwa das von der Prinzessin mit den zarten Zehen oder vom Prinzen mit den totgeküssten Fröschen.
Und die Klammer könnte laut gelesen werden, als Chor sogar von den Höflingen, und den König könnte sie dazu eine pantomimische Groteske des Denkens auffähren lassen. Und die Idee mit der Langsamkeit musste sie auf alle Fälle im Auge behalten, die Langsamkeit der Macht, die sich gemächlich durch die Jahrhunderte walzt und die sich immer durchsetzt.
Auch gegen zwei Menschen, die ihr Leben leben wollen und doch ihrem Schicksal nicht entfliehen können.
Anna kam aus der Dusche zurück, warf das Badetuch, das sie um sich geschlungen hatte, auf das Schaffell am Boden, legte ein trockenes Frottiertuch auf die feuchte Stelle des Bettlakens und kroch wieder zu Thomas ins Bett.
»So«, sagte sie und küsste ihn auf sein Ohr, »es ist bestimmt nichts passiert. War ja grad der letzte Tag meiner Periode.«
Sie waren von Erlenbach aus nach Zürich in Thomas’ Einzimmerwohnung gefahren, und erst als sie miteinander ins Bett wollten und er in die Schublade des Nachttischchens griff, hatte er gemerkt, dass keine Kondome mehr da waren.
Nun lagen sie nebeneinander unter der Decke, Anna bettete ihren Kopf auf seine Schulter und schaute auf das Poster des Planeten Erde an der Wand vor ihr, das im Kerzenlicht noch größer schien als bei Tage.
»Ein würdiges Ende eines schönen Sonntags«, sagte sie und lachte.
Thomas schnurrte wie ein Kater.
»Du warst eine wunderbare Sonntagsfrau.«
»Achtung«, sagte sie, »gleich wird’s Montag.«
»Egal«, sagte er, »ich bin ein Sonntagskind.«
»Ehrlich?«
»Ja. Und du?«
»Weiß ich gar nicht. Hab meine Mutter nie gefragt.«
»Du kannst nur ein Sonntagskind sein.«
»Ach was, ich bin eher ein Montagsmodell.«
»Ein Sonntagskind, glaub mir. Deine Mutter hat bestimmt drauf geachtet.«
»Als ob man das könnte.«
»Warum nicht? Meine Mutter behauptet, sie habe mich zurückgehalten bis nach Mitternacht.«
»Wann bist du denn zur Welt gekommen?«
»Zehn nach zwölf, Sonntag früh.«
Anna lachte. »Da haben wir’s. Ein Nachtmensch. Hat sie gut gemacht, deine Mutter. Überhaupt«, fahr sie dann fort, »feine Eltern hast du, sie sind irgendwie gut drauf, beide.«
»Doch«, sagte Thomas, »wir hatten’s eigentlich immer ganz friedlich zusammen.«
»Nie große Krache? Wegen Kleidern, Ausgang, Mädchen, Schule, Geld?«
»Es geht«, sagte Thomas und merkte, dass es ihm fast etwas unangenehm war. Lieber hätte er jetzt von einem tiefgreifenden Zerwürfnis mit dem Elternhaus gesprochen, das ihn schon immer zum großen Einsamen gemacht habe.
Aber seine Kindheit war von allem Schweren verschont geblieben. Endlose Nachmittage tauchten in seiner Erinnerung auf, an denen er mit Mirjam im Garten gespielt hatte, ich wäre der Vater und du wärst die Mutter und der Panda der Bub und die Puppe das Mädchen, der Panda war faul und gefräßig, die Puppe fleißig und eitel, und später hatten sie Softball gespielt auf der Fläche des Garagendaches, nicht gegeneinander, sondern miteinander, wie lange können wir den Ball hin und her schlagen, ohne dass er runterfällt, er hatte ein Büchlein geführt mit den Resultaten, der Rekord war irgendwo bei 800, und dann war er zu den Pfadfindern gegangen, wo sie Schnitzeljagden gemacht hatten und Postenläufe und Lagerfeuer im Erlenbacher Tobel, in der Schule hatte er keine Mühe gehabt, war auch leicht ins Gymnasium in Zürich gekommen, Rämibühl, sprachlich-literarische Richtung, mit Latein, und jeden Winter ging’s zum Skifahren und Snowboarden nach Pontresina in die Wohnung, die seine Eltern gekauft hatten, auch das Haus in Erlenbach gehörte ihnen, und als einmal die Rede davon war, ob sie sich in Feldmeilen ein Grundstück erwerben sollten, um darauf zu bauen, verteidigten sowohl er wie auch Mirjam ihr Haus mit dem Türmchen, das ihnen beiden so gut gefiel. Über dem obersten Erkerzimmer, in dem der Vater sein Büro hatte, gab es noch einen kleinen Estrichraum unter der Schräge des Turmdaches, mit Fensterluken auf den Zürichsee, und das war ein Lieblingsort von Thomas, besonders bei aufziehenden Gewittern, wenn sich die Wolken schwarz und mächtig über dem andern Ufer blähten wie der Geist in der Flasche und unten an den Seeufern die ängstlichen orangen Lichter der Sturmwarnung blinkten und dann die ersten Blitze zuckten und sich das Donnergrollen über den See schob, dann saß Thomas gerne dort oben auf einem alten überseekoffer und schaute zum Fenster hinaus.
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