»Weil ich dein Vater bin, verflucht noch mal!«
»Ja«, erwiderte Simon bitter. »Als ob mir das nicht nur zu klar wäre.« Er stieß seinen Stuhl zurück, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Raum. Harry sah ihm nach und fluchte leise.
Um neun Uhr klingelte es. Isobel, die gerade in die Küche hinuntergekommen war, zog eine Grimasse. Sie trottete zur Haustür und öffnete. Ein großer weißer Lieferwagen parkte vor dem Haus, und ein Mann stand vor der Tür, umgeben von weißen Schachteln.
»Die Lieferung des Hochzeitskuchens«, verkündete er. »Auf den Namen Havill.«
»O Gott!« Isobel starrte auf die Schachteln. »O Gott!« Sie ging in die Knie, lüpfte einen der Deckel und erhaschte einen Blick von einer glatten weißen Glasur und einer Zuckerrose. »Hören Sie.« Sie erhob sich wieder. »Haben Sie vielen Dank. Aber bei uns hat sich im Ablauf was geändert.«
»Ist das die falsche Adresse?« Der Mann schielte auf einen Zettel. »Bertram Street eins.«
»Nein, die Adresse stimmt schon«, sagte Isobel. »Das schon.«
Sie starrte an ihm vorbei zum Lieferwagen, und Niedergeschlagenheit überkam sie. Dieser Tag hätte ein glücklicher Tag sein sollen, voll erwartungsvoller Vorfreude, geschäftigem Treiben und allerletzten Vorbereitungen. Nicht so.
»Das Problem ist«, erklärte sie, »dass wir keinen Hochzeitskuchen mehr brauchen. Können Sie ihn wieder mitnehmen?«
Der Mann lachte höhnisch auf.
»Und den Kuchen den ganzen Tag im Lieferwagen mit rumfahren? Wohl kaum!«
»Aber wir brauchen ihn nicht.«
»Meine Liebe, ich fürchte, das ist nicht mein Problem. Sie haben ihn bestellt – wenn Sie ihn zurückgeben wollen, dann ist das eine Sache zwischen Ihnen und der Firma. Wenn Sie jetzt bitte einfach hier unterschreiben« – er drückte ihr einen Kuli in die Hand –, »ich hole die restlichen Schachteln.« Isobel riss den Kopf hoch.
»Die restlichen? Herrje, wie viele denn noch?«
»Insgesamt zehn.« Der Mann sah auf seinem Zettel nach. »Einschließlich Ständern und Zubehör.«
»Zehn«, wiederholte Isobel ungläubig.
»Das ist eine Menge Kuchen.«
»Ja«, sagte Isobel, während er zurück zu seinem Lieferwagen verschwand. »Vor allem für gerade mal vier Personen.«
Als Olivia die Treppe hinunterkam, standen die weißen Schachteln bereits ordentlich aufgestapelt in einer Dielenecke.
»Wusste nicht, was ich sonst damit machen soll«, erklärte Isobel, die aus der Küche kam.
Sie sah ihre Mutter an und erbleichte. Olivias Gesicht war eine wilde Mischung aus grellem Make-up und Todesblässe. Sie klammerte sich fest an das Geländer und sah aus, als könne sie jeden Augenblick zusammenklappen.
»Ist dir nicht gut, Mummy?«
»Geht gleich wieder«, erwiderte Olivia mit merkwürdiger Heiterkeit. »Ich habe bloß nicht viel geschlafen.«
»Da bist du nicht die Einzige. Wir sollten uns alle noch mal ins Bett legen.«
»Tja, nun. Daraus wird wohl nichts, oder?« Olivia lächelte Isobel angespannt an. »Wir müssen eine Hochzeit absagen. Telefonate führen. Ich habe eine Liste gemacht!«
Isobel zuckte zusammen.
»Mummy, ich weiß, wie schwer das für dich ist.«
»Auch nicht schwerer als für alle anderen.« Olivia reckte das Kinn. »Warum sollte es für mich schwerer sein? Schließlich ist das nicht das Ende der Welt, oder? Schließlich ist es nur eine Hochzeit!«
»Nur eine Hochzeit«, sagte Isobel. »Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass es so einfach ist.«
Gegen elf klopfte es an Millys Tür.
»Bist du wach?«, erkundigte sich Esme. »Isobel ist am Telefon.«
»Oh.« Milly setzte sich auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Ihr dröhnte der Kopf, ihre Stimme klang wie die einer Fremden. Sie versuchte, Esme anzulächeln. Aber ihr Gesicht fühlte sich trocken und alt an, und ihr Hirn kam nicht in Schwung. Was ging überhaupt vor? Warum wachte sie in Esmes Haus auf?
»Ich hole das Handy.« Esme verschwand.
Milly sank aufs Kissen zurück, starrte zu Esmes pistazienfarbener Decke empor und fragte sich, warum ihr alles so unwirklich vorkam. Und dann erinnerte sie sich schlagartig. Die Hochzeit war geplatzt.
Die Hochzeit war geplatzt. Sie ließ sich den Gedanken versuchsweise durch den Kopf gehen und wartete auf einen Stich im Herzen, einen erneuten Tränenausbruch. Aber sie hatte keine Tränen mehr, sie war innerlich ganz ruhig, die schmerzlichen Gefühle vom Vorabend hatte der Schlaf gedämpft. Und doch konnte sie es nicht fassen. Die Hochzeit – um die sich in den letzten Wochen alles gedreht hatte – würde nicht stattfinden. Wie war das möglich? Wie konnte der Mittelpunkt ihres Lebens einfach verschwinden? Es kam ihr vor, als wäre der Gipfel, zu dem sie hinaufgestiegen war, plötzlich verschwunden, und sie wäre zurückgeblieben, allein an die Felsen geklammert, desorientiert über die Felskante lugend.
»So, hier bitte«, sagte Esme, die wieder an ihrem Bett erschienen war. »Hättest du gern einen Kaffee?«
Milly nickte und nahm das Telefon.
»Hi«, sagte sie mit kratziger Stimme.
»Hi«, ertönte Isobels Stimme am anderen Ende der Leitung. »Alles okay mit dir?«
»Ja, ich schätze schon.«
»Hat Simon sich schon gerührt?«
»Nein.« Milly sprach schneller. »Wieso? Hat er …«
»Nein«, sagte Isobel rasch. »Nein, hat er nicht. Ich habe mich nur gefragt. Für den Fall.«
»Oh. Tja, nein. Ich habe geschlafen. Ich habe mit niemandem gesprochen.«
Eine Pause trat ein. Milly sah zu, wie Esme die Vorhänge öffnete und sie mit dicken, geflochtenen Kordeln zurückband. Es war ein strahlender, klirrend kalter Tag. Esme schenkte Milly ein Lächeln und verließ dann auf leisen Sohlen den Raum.
»Isobel, es tut mir wirklich leid«, sagte Milly langsam. »Dass ich dich da so mit reingeritten habe.«
»Oh, das«, sagte Isobel. »Keine Sorge. Das macht nichts.«
»Ich bin einfach durchgedreht. Ich hab bloß – na ja. Du weißt schon.«
»Natürlich. Ich hätte genau dasselbe gemacht.«
»Nein, bestimmt nicht.« Milly grinste schwach. »Du bist zigmal beherrschter als ich.«
»Na, trotzdem, mach dir keine Sorgen. Es war kein Problem.«
»Ehrlich? Hat Mummy dir nicht den ganzen Tag Vorträge gehalten?«
»Sie hatte gar nicht die Zeit dazu. Wir haben viel zu viel zu tun.«
»Oh.« Milly runzelte die Stirn. »Womit?«
Stille.
»Damit, die Hochzeit abzublasen«, erwiderte Isobel schließlich kummervoll.
»Oh«, sagte Milly wieder. Ihr wurde schwer ums Herz. »Oh, verstehe. Natürlich.«
»O Gott, Milly. Tut mir leid. Ich dachte, das wäre dir klar.«
»War’s auch. Klar. Natürlich müsst ihr sie abblasen.«
»Deshalb rufe ich nämlich auch an. Ich weiß, es ist schrecklich, das gerade jetzt zu fragen. Aber gibt es noch jemanden, den ich anrufen muss? Jemanden, der nicht im roten Buch steht?«
»Weiß nicht.« Milly schluckte. »Wem hast du’s denn schon gesagt?«
»Etwa der Hälfte unserer Gäste. Bis zu den Madisons. Harrys Leute übernehmen seinen Teil.«
»Wow.« Milly kam sich dumm vor, und ihr stiegen Tränen in die Augen. »Ihr seid ja wirklich von der schnellen Truppe!«
»Geht nicht anders! Manche hätten sich ja heute schon auf die Reise gemacht. Die mussten doch gleich Bescheid bekommen.«
»Stimmt.« Milly holte tief Luft. »Ich steh nur mal wieder auf der Leitung. Tja. Wie geht ihr vor?«
»Wir gehen die Liste in dem roten Buch durch. Alle … alle haben es wirklich nett aufgenommen.«
»Was erzählt ihr ihnen denn?« Milly wand das Betttuch um die Finger.
»Wir sagen, du seist krank. Wir wussten nicht, was wir sonst sagen sollten.«
»Kaufen sie euch das ab?«
»Keine Ahnung. Ein paar schon.«
Schweigen.
»Okay«, sagte Milly schließlich. »Also, wenn mir noch jemand einfällt, ruf ich an.«
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