»Das ist ihre Sache«, erwiderte Milly und sah zu Boden. »Das geht mich nichts an. Ich hätte den Mund halten sollen.«
Ein Klingeln an der Tür ließ alle aufschrecken.
»Das wird Isobel sein.« James erhob sich. Er öffnete die Tür und machte einen Schritt zurück.
»Ah«, sagte er. »Simon, du bist es.«
Isobel ging den Bürgersteig entlang, ohne stehen zu bleiben, ohne zurückzusehen, ohne zu wissen, wohin. Ihr Herz hämmerte, die Lippen hatte sie fest zusammengepresst. Der Schnee war inzwischen matschig; ein kalter Sprühregen benetzte ihr Haar und tropfte ihren Hals hinunter. Aber mit jedem Schritt fühlte sie sich ein bisschen besser. Jeder Schritt brachte sie der Anonymität näher und fort von den schockierten Gesichtern ihrer Familie.
Noch immer bebte sie vor Zorn. Sie fühlte sich verraten, falsch dargestellt, war unendlich wütend auf Milly … und doch tat ihr ihre Schwester zu leid, als dass sie ihr Vorwürfe gemacht hätte. Noch nie hatte sie eine derart hässliche Familienszene erlebt, mit der schutzlosen Milly in der Mitte. Kein Wunder, dass die sich der erstbesten Ablenkungstaktik bedient hatte, die sich ihr anbot. Das war verständlich. Aber leichter machte es das auch nicht.
Isobel schloss die Augen. Sie kam sich so verletzlich vor, nicht bereit für das alles. Bei ihrer Rückkehr würden ihre Eltern sicher mit ihr sprechen wollen. Sie würden erwarten, dass sie ihnen Rede und Antwort stand, dass sie sie beruhigte und ihnen half, die Neuigkeit zu verdauen. Dabei hatte sie das doch selbst kaum geschafft. Ihre Gedanken dazu konnte sie noch nicht artikulieren, konnte nicht länger zwischen Emotionen und körperlichen Empfindungen unterscheiden. Sprühender Optimismus wechselte mit Weinerlichkeit, und die Übelkeit machte alles nur noch schlimmer. Was ist es für ein Gefühl?, würde Milly zweifelsohne fragen. Was ist es für ein Gefühl, ein Kind in sich zu tragen? Aber Isobel wollte das nicht beantworten. Sie wollte sich nicht als jemanden sehen, der demnächst Mutter wurde.
An einer Straßenecke blieb sie stehen und legte die Hand auf den Bauch. Wenn sie an das Wesen in sich dachte, dann wie an ein kleines Schalentier oder eine Schnecke. Etwas Zusammengerolltes und kaum Menschliches. Etwas Unbestimmtes, dessen Leben noch nicht begonnen hatte. Dessen Leben, wenn sie es so wollte, nicht weiter fortschreiten würde. Eine Woge aus Kummer und Übelkeit überkam sie, und sie fing zu zittern an. Die ganze Familie, dachte sie, sorgt sich darum, ob Millys Hochzeit stattfinden soll oder nicht. Während ich, mutterseelenallein, zu entscheiden versuche, ob ein kleiner Mensch entstehen darf oder nicht.
Der Gedanke lähmte sie. Sie fühlte sich fast überwältigt von der Last, überwältigt von der Entscheidung, die sie würde fällen müssen, und einen Augenblick fühlte sie sich einem Zusammenbruch nahe. Doch stattdessen schob sie die Hände tiefer in die Taschen, biss die Zähne zusammen und marschierte weiter.
Als träten sie bei einer Talkshow auf, saßen Simon und Milly einander zugewandt im Wohnzimmer.
»So«, meinte Simon schließlich. »Worum geht’s jetzt eigentlich?«
Milly starrte ihn schweigend an. Ihre Finger zitterten, als sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich; sie öffnete die Lippen, um zu sprechen, und schloss sie dann wieder.
»Du machst mich nervös«, sagte Simon. »Komm, Schatz. So schlimm kann’s doch nicht sein, oder?«
»Nein.«
»Na also.« Er grinste sie an, und Milly lächelte, plötzlich erleichtert, zurück.
»Es wird dir nicht gefallen.«
»Ich werde tapfer sein«, erwiderte Simon. »Na, komm schon, sag’s mir ins Gesicht.«
»Okay«, sagte Milly. Sie holte tief Luft. »Die Sache ist die, dass wir am Samstag nicht heiraten können. Wir werden die Trauung verschieben müssen.«
»Verschieben?«, sagte Simon bedächtig. »Na, okay. Aber warum?«
»Es gibt da was, das ich dir nicht erzählt habe.« Milly knetete nervös ihre Hände. »Mit achtzehn habe ich etwas sehr Dummes getan. Ich habe jemanden geheiratet. Es war eine Scheinehe, die nichts bedeutet hat. Aber die Scheidung ist nie vollzogen worden. Deshalb bin ich … bin ich immer noch verheiratet.«
Sie warf Simon einen Blick zu. Er wirkte verwirrt, aber nicht zornig, und ihr fiel ein Stein vom Herzen. Nach den hysterischen Anfällen ihrer Mutter war es eine Wohltat, zu sehen, wie ruhig Simon die Nachricht aufnahm. Er flippte nicht aus; er brüllte nicht los. Und warum auch? Schließlich hatte das alles ja nichts mit ihrer Beziehung zu tun, oder? Es war nichts weiter als ein technischer Haken.
»Das bedeutet nur, dass ich auf das rechtskräftige Urteil warten muss, ehe wir heiraten können.« Sie biss sich auf die Lippe. »Simon, es tut mir wirklich leid.«
Langes Schweigen.
»Ich verstehe nicht ganz?«, sagte Simon schließlich. »Ist das ein Witz?«
Sie sah ihn unglücklich an. Seine dunklen Augen musterten sie, langsam trat ein ungläubiger Ausdruck auf sein Gesicht.
»Das ist dein Ernst!«
»Ja.«
»Du bist wirklich verheiratet!«
»Ja. Aber es war keine richtige Ehe«, sagte Milly rasch. Sie starrte zu Boden, bemüht, die Stimme ruhig zu halten. »Er war schwul. Die ganze Sache war ein Schwindel. Damit er das Land nicht verlassen musste. Ehrlich, es hat nichts bedeutet. Weniger als nichts! Das verstehst du doch, oder? Du verstehst es doch?«
Sie sah zu ihm auf. Aber als sie sein Gesicht sah, wurde ihr schlagartig klar, dass er es nicht verstand.
»Es war ein Fehler«, sagte sie und verhaspelte sich in der Eile fast. »Ein großer Fehler. Jetzt sehe ich das ein. Ich hätte mich nie dazu hergeben sollen. Aber ich war jung und sehr dumm, und er war ein Freund. Oder zumindest dachte ich das. Und er brauchte meine Hilfe. Mehr war da nicht dran!«
»Mehr war da nicht dran«, echote Simon in seltsamem Tonfall. »Tja, und was hat dir dieser Typ dafür gezahlt?«
»Nichts!«, erwiderte Milly. »Ich habe ihm damit doch nur einen Gefallen getan!«
»Du hast geheiratet … um jemandem einen Gefallen zu tun?«, fragte er ungläubig. Milly starrte ihn beunruhigt an. Irgendwie lief alles völlig verkehrt.
»Es hat nichts bedeutet«, sagte sie, »und es ist zehn Jahre her! Ich war ein Kind. Ich weiß, ich hätte es dir früher erzählen sollen. Aber ich …« Sie verstummte und sah ihn verzweifelt an. »Simon, sag etwas!«
»Was soll ich denn sagen?«, versetzte Simon. »Herzlichen Glückwunsch?« Milly zuckte zusammen.
»Nein! Bloß … ich weiß nicht. Sag mir, was du denkst.«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll. Ich kann das nicht glauben. Du erzählst mir, du bist mit einem anderen verheiratet! Was soll ich darüber denken?« Sein Blick fiel auf ihre linke Hand, auf den Finger, der seinen Verlobungsring trug, und sie errötete.
»Es hat nichts bedeutet«, sagte sie. »Das musst du mir glauben.«
»Es ist doch gleich, ob es was bedeutet hat! Du bist immer noch verheiratet, oder?« Simon sprang unvermittelt auf und ging zum Fenster. »Herrgott, Milly!« Seine Stimme bebte leicht. »Warum hast du es mir denn nicht gesagt?«
»Ich weiß nicht. Ich wollte …« Sie schluckte. »Ich wollte nicht alles zerstören.«
»Du wolltest nicht alles zerstören«, wiederholte Simon. »Also hast du bis zwei Tage vor unserer Hochzeit gewartet, um mir zu erzählen, dass du verheiratet bist.«
»Ich dachte, es wäre egal! Ich dachte …«
»Du dachtest, wieso soll ich ihm das erzählen! Habe ich recht?«
»Ich habe nicht …«
»Du wolltest es vor mir geheim halten!« Seine Stimme schwoll an. »Vor deinem eigenen Mann!«
»Nein! Ich hatte vor, es dir zu sagen!«
»Wann? In unserer Hochzeitsnacht? Bei der Geburt unseres ersten Kindes? Zu unserer goldenen Hochzeit?«
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