Die Tätigkeit bei Peters, Eastman & Tolkin machte Julia Spaß. Es wäre eine Untertreibung gewesen, wenn sie behauptet hätte, daß es der Firma nicht besonders gut ging — Klienten und Aufträge waren ausgesprochene Mangelware. Julia mußte sich eingestehen, daß von einem Mitwirken an der Verschönerung kaum die Rede sein konnte; doch die Zusammenarbeit mit den drei Architekten tat ihr gut, denn sie bildeten so etwas wie eine Ersatzfamilie, und jeder vertraute Julia seine persönlichen Probleme an. Sie entpuppte sich als eine fähige, fleißige Sekretärin und hatte das Büro binnen kurzem besser organisiert.
Julia wollte dem Kundenmangel abhelfen, sie wußte nur nicht, wie, bis ihr eines schönen Tages eine Möglichkeit in den Sinn kam, als sie im Kansas City Star eine Meldung entdeckte:
Ein neugegründeter Chefsekretärinnenverein unter dem Vorsitz von Susan Bandy traf sich zu einem Clubessen.
«Könnte sein, daß ich heute mittag ein bißchen später zurückkomme«, meinte Julia am nächsten Tag.
Al Peters lächelte freundlich.»Kein Problem, Julia. «Sie waren froh, daß sie so eine Sekretärin wie Julia hatten.
Als Julia im Plaza Inn eintraf und sich schnurstracks zu dem gekennzeichneten Saal begab, wurde sie an der Tür von einer Frau angesprochen:»Kann ich etwas für Sie tun?«
«Gewiß. Ich bin zum Chefsekretärinnenessen gekommen.«
«Ihr Name?«
«Julia Stanford.«
Die Frau checkte ihre Namensliste.»Bedaure, aber ich kann Ihren…«
Julia grinste.»Typisch Susan, ich werd gleich ein Wörtchen mit ihr reden. Ich bin Chefsekretärin bei Peters, Eastman & Tolkin.«
Die Frau machte einen unsicheren Eindruck.»Also… «
«Machen Sie sich keine Sorgen. Ich spreche gleich mit Susan.«
Julia marschierte zielbewußt auf eine Gruppe schick gekleideter Damen zu, die in einer Ecke des Bankettsaals standen, um sich bei einer von ihnen höflich zu erkundigen:»Verzeihung, wo ist Susan Bandy?«
«Dort drüben«, sagte die Frau und deutete auf eine hochgewachsene, auffallend hübsche Mittvierzigerin.
Julia ging zu ihr hinüber.»Hallo, ich bin Julia Stanford.«
«Hallo.«
«Ich arbeite bei Peters, Eastman & Tolkin. Sie haben doch bestimmt schon von uns gehört.«
«Nun, ich…«
«Ein expandierendes Architekturbüro in Kansas City.«
«Verstehe.«
«Ich habe leider nur sehr wenig Zeit, aber ich würde gern alles in meinen Kräften Stehende tun, um die Vereinsarbeit zu unterstützen.«
«Das ist sehr freundlich von Ihnen, Miss…?«
«Stanford.«
Damit war der Anfang gemacht.
In dem Verein waren die meisten führenden Firmen vertreten, und es dauerte gar nicht lang, bis Julia ihr Kontaktnetz aufbauen konnte. Sie aß mindestens einmal wöchentlich mit einem Vereinsmitglied allein zu Mittag.
«Unsere Firma plant ein neues Gebäude in Olathe.«
Julia gab die Nachricht schnurstracks an ihre Chefs weiter.
«Mr. Hanley will sich ein Sommerhaus in Toganoxie bauen.«
Bevor irgend jemand anders von solchen anstehenden Aufträgen erfuhr, waren sie bereits bei Peters, Eastman & Tolkin gelandet.
«Sie haben eine Gehaltserhöhung verdient, Julia«, erklärte Bob Eastman eines Tages.»Sie leisten fantastische Arbeit. Sie sind eine Spitzenkraft.«
«Würden Sie mir einen Gefallen tun?«
«Klar doch.«
«Ernennen Sie mich offiziell zur Chefsekretärin, das würde meine Glaubwürdigkeit erhöhen.«
Julia las gelegentlich in der Zeitung über ihren Vater, hin und wieder sah sie ihn auch in einem Fernsehinterview. Gegenüber Sally oder ihren Arbeitgebern erwähnte sie ihn nie.
Als Teenager hatte Julia oft von ihrer Entführung an irgendeinen herrlichen, zauberhaften Ort geträumt, weg von Kansas City, in eine Luxusstadt mit Jachten, Privatflugzeugen und Palästen, doch die Nachricht vom Tode ihres Vaters beendete für immer die Verwirklichung solcher Träume. Na ja, dachte sie halb belustigt, immerhin hab’ ich meinen Weg in Kansas gemacht,
Jetzt bin ich allein. Jetzt habe ich gar keine Verwandten mehr. Aber Moment mal, überlegte Julia, das ist ja gar nicht wahr, ich habe ja noch eine Halbschwester und zwei Halbbrüder. Sie sind meine Angehörigen — meine Familie. Sollte ich sie besuchen? Wäre das eine gute Idee? Eine schlechte Idee? Was würden wir wohl füreinander empfinden?
Julia traf eine Entscheidung, die für sie zur Frage von Leben oder Tod werden sollte.
Es war ein Treffen einander fremd gewordener Menschen, da es Jahre her war, daß die Geschwister sich gesehen oder auch nur miteinander in Verbindung gestanden hatten.
Richter Tyler Stanford kam mit dem Flugzeug nach Boston.
Kendall Stanford Renaud flog von Paris ein, ihr Mann Marc reiste mit dem Zug aus New York an.
Woody und Peggy Stanford kamen mit dem Wagen aus Hobe Sound herübergefahren.
Die Erbengemeinschaft war davon in Kenntnis gesetzt worden, daß die Bestattung in der King's Chapel stattfand. Die Straße vor der Kirche war abgesperrt worden, und Polizei war bereitgestellt, um Neugierige zurückzuhalten, die die Ankunft der berühmten Persönlichkeiten beobachten wollten. Angesagt hatten sich für den Trauergottesdienst der Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Senatoren, Botschafter und Staatsmänner selbst aus so weit entfernten Ländern wie die Türkei und Saudi-Arabien. Harry Stanford hatte in seinem Leben einen großen Schatten geworfen, und die siebenhundert Plätze in der Kapelle würden ausnahmslos besetzt sein.
Tyler sowie Woody und Kendall nebst Ehepartnern trafen sich in der Sakristei, distanziert und verlegen, die nichts verband außer der Tote im Leichenwagen draußen vor der Kirche.
«Darf ich euch meinen Mann Marc vorstellen«, sagte Kendall.
«Meine Frau Peggy. Peggy — meine Schwester Kendall und mein Bruder Tyler.«
Man begrüßte sich höflich, stand beklommen herum, musterte sich gegenseitig, bis ein Ordner sich der Gruppe näherte.
«Verzeihung«, sagte er mit gedämpfter Stimme.»Der Gottesdienst fängt gleich an, würden Sie mir bitte folgen?«
Er führte sie zu der reservierten vordersten Kirchenbank, auf der sie Platz nahmen und warteten. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Tyler fühlte sich ausgesprochen unwohl. Seine positiven Erinnerungen an Boston führten zurück in die Zeit, als seine Mutter und Rosemary noch lebten. Seinen Vater hatte er immer nur als Saturn identifiziert, seit er mit elf Jahren einen Druck des berühmten Gemäldes Saturn frißt seinen Sohn von Goya gesehen hatte.
Und als Tyler nun zu dem Sarg hinschaute, den die Sargträger in die Kirche hereintrugen, kam ihm der Gedanke: Saturn ist tot.
«Ich kenne dein kleines schmutziges Geheimnis.«
Der Geistliche stieg auf die historische Kirchenkanzel, die einem Weinkelch nachgebildet war.
«Und Jesus sagte zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er denn stürbe; und wer lebt und an mich glaubt, wird den Tod nicht sehen.«
Woody befand sich in einer euphorischen Stimmung. Er hatte sich vor der Fahrt zur Kirche einen Schuß Heroin verpaßt, und die Wirkung dauerte noch an. Er betrachtete seine Schwester und seinen Bruder. Tyler hat zugenommen und sieht auch wie ein Richter aus. Kendall ist eine Schönheit geworden. Sie scheint aber unter Druck zu stehen, sie leidet. Weil Vater gestorben ist? Das bestimmt nicht. Sie hat ihn nicht weniger gehaßt als ich. Er musterte seine Frau, die neben ihm saß. Schade, daß ich sie ihm nie vorstellen konnte. Er hätte
Der Geistliche las weiter.
«Wie ein Vater Mitleid hat mit seinen Kindern, so hat der Herr Mitleid mit denen, die ihn fürchten. Denn er weiß, woraus wir erschaffen sind; er weiß, daß wir Staub sind.«
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