»Wohl nur ein Echo, mehr nicht«, hauchte die Stimme, kaum noch zu hören.
»Warte«, rief ich, »hier bin ich!«
»Ein Echo, nichts als Flausen ...«
»Nein, ich bin hier draußen!«
»Nach wie vor bin ich allein.«
»Nein, wir sind zu zwein!«
»Was bleibt, ist immer nur der Tod.«
»Hier drüben bin ich, hier im Boot!«
Die Stimme verlor sich.
Ich stieß einen Schrei aus.
Er schrie zurück.
Es war zu viel. Ich verlor den Verstand.
Dann kam mir ein Gedanke.
»ICH HEISSE«, brüllte ich mit letzten Kräften hinaus aufs Meer, »PISCINE MOLITOR PATEL.« Das würde ihm klarmachen, dass ich kein Echo war. »Hörst du mich? Ich bin Piscine Molitor Patel, genannt Pi Patel!«
»Was? Ist da jemand?«
»Ja, hier draußen!«
»Was! Ist das denn die Möglichkeit! Bitte, hast du etwas zu essen? Ganz egal was. Ich habe überhaupt nichts mehr. Schon seit Tagen habe ich nichts mehr gegessen. Ich muss etwas essen. Alles, was du entbehren kannst, ganz egal was. Ich flehe dich an.«
»Aber ich habe auch nichts mehr«, antwortete ich verzweifelt. »Ich habe auch schon seit Tagen nichts mehr gegessen. Ich hatte gehofft, dass du vielleicht etwas hast. Hast du Wasser? Ich habe kaum noch etwas.«
»Nein, ich habe nichts mehr. Und du hast überhaupt nichts zu essen? Keinen Bissen?«
»Nichts.«
Es folgte Schweigen, ein bedrückendes Schweigen.
»Wo bist du?«, fragte ich.
»Hier drüben«, antwortete er schlaff.
»Wo drüben? Ich kann dich nicht sehen.«
»Wieso kannst du mich nicht sehen?«
»Ich bin blind geworden.«
»Was!«, rief er.
»Ich bin blind. Um mich ist nur noch Dunkel. Ich spüre meine Lider, aber ich sehe nichts. Seit zwei Tagen, wenn die Haut zum Zeitmessen taugt. Sie sagt mir ja nur, ob die Sonne scheint oder nicht.«
Ich hörte ein entsetzliches Heulen.
»Was ist?«, fragte ich. »Was hast du, mein Freund?«
Noch einmal stieß er sein Heulen aus.
»Antworte mir, bitte. Was ist? Ich bin blind, wir haben keine Nahrung und kein Wasser, aber wir haben einander. Das ist doch auch etwas. Ein Geschenk. Was fehlt dir, mein Bruder?«
»Auch ich bin blind!«
»Was?«
»Auch ich spüre, wie du sagst, meine Lider und sehe nichts.«
Wieder kam der Klagelaut. Ich war fassungslos. Ich hatte einen zweiten blinden Schiffbrüchigen in einem zweiten Rettungsboot gefunden, mitten auf dem Pazifik!
»Aber wieso bist du blind geworden?«, murmelte ich.
»Vermutlich aus dem gleichen Grund wie du. Zu wenig Hygiene, zu viele Entbehrungen.«
Das war für uns beide zu viel. Er heulte, ich schluchzte. Es war nicht mehr auszuhalten, wir waren endgültig am Ende.
»Lass mich eine Geschichte erzählen«, sagte ich nach einer Weile.
»Eine Geschichte?«
»Ja.«
»Was soll ich denn mit einer Geschichte? Ich will essen.«
»Es ist eine Geschichte über Essen.«
»Worte haben keinen Nährwert.«
»Suche deine Nahrung, wo du sie finden kannst.«
»Da hast du Recht.«
Schweigen. Ein hungriges Schweigen.
»Wo bist du?«, fragte er.
»Hier. Und du?«
»Hier.«
Ich hörte Platschen. Ein Ruder wurde ins Wasser gestochen. Ich griff selbst nach einem der Ruder, die ich von dem untergegangenen Floß gerettet hatte. Es war entsetzlich schwer. Ich tastete, bis ich eine Dolle fand. Ich legte das Ruder hinein. Ich zog an der Stange. Ich hatte keine Kraft mehr. Aber ich ruderte, so gut es ging.
»Lass deine Geschichte hören«, keuchte er.
»Es war einmal eine Banane, die hing an einem Baum. Sie wuchs und reifte, bis sie groß, fest, gelb und duftend war. Dann fiel sie zu Boden, jemand fand sie und aß sie.«
Er hielt im Rudern inne. »Was für eine schöne Geschichte!«
»Danke.«
»Ich habe Tränen in den Augen.«
»Sie geht noch weiter«, sagte ich.
»Und wie?«
»Die Banane fiel zu Boden, jemand fand sie und aß sie - und danach ging es ihm besser.«
»Atemberaubend!«, rief er.
»Danke.«
Eine Pause.
»Aber du hast keine Bananen, oder?«
»Nein. Der Orang-Utan hat mich abgelenkt.«
»Wer?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Hast du Zahnpasta?«
»Nein.«
»Fisch mit Zahnpasta, eine Delikatesse. Zigaretten?«
»Die habe ich gegessen.«
»Gegessen?«
»Die Filter sind noch da. Die kannst du haben, wenn du willst.«
»Die Filter? Was soll ich denn mit Zigarettenfiltern ohne Tabak? Wie kann man Zigaretten essen?«
»Was hätte ich sonst damit tun sollen? Ich rauche nicht.«
»Du hättest sie aufheben sollen, zum Tauschen.«
»Tauschen? Mit wem?«
»Mit mir!«
»Aber Bruder, als ich sie aß, war ich allein in einem Boot mitten auf dem Pazifik.«
»Und?«
»Da habe ich mir keine großen Chancen ausgerechnet, dass ich jemanden treffe, der etwas gegen meine Zigaretten tauschen will.«
»Du musst doch auch an die Zukunft denken, Dummkopf! Jetzt hast du nichts, womit du handeln kannst.«
»Aber selbst wenn ich etwas zum Tauschen hätte, was würde ich denn bekommen? Was hast du, was ich brauchen könnte?«
»Ich habe einen Stiefel«, antwortete er.
»Einen Stiefel?«
»Ja, einen schönen Lederstiefel.«
»Was soll ich denn mit einem Lederstiefel in einem Rettungsboot mitten auf dem Pazifik? Meinst du, ich gehe nach Feierabend wandern?«
»Du könntest ihn essen!«
»Einen Stiefel essen? Was für eine Idee.«
»Du isst Zigaretten - warum da nicht auch Stiefel?«
»Das ist ja ekelhaft. Wem gehört er überhaupt?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Du erwartest von mir, dass ich den Stiefel eines Wildfremden esse?«
»Wo ist denn da der Unterschied?«
»Ich kann es nicht fassen. Ein Stiefel. Ganz abgesehen davon, dass ich Hindu bin und uns Hindus die Kühe heilig sind, würde ich doch, wenn ich einen Stiefel äße, all den Schmutz essen, den der Fuß abgesondert hat, und dazu all den Schmutz, in den er getreten ist.«
»Also kein Stiefel.«
»Lass ihn mal ansehen.«
»Nein.«
»Was? Soll ich ihn etwa blind kaufen?«
»Wir sind beide blind, vergiss das nicht.«
»Dann beschreib mir den Stiefel. Was bist du denn für ein Kaufmann? Kein Wunder, dass du nach Kundschaft hungerst.«
»Genau das. Genau das.«
»Also, wie sieht er aus?«
»Es ist ein Lederstiefel.«
»Was für ein Lederstiefel?«
»Ein ganz normaler.«
»Und das heißt?«
»Mit Schnürsenkel und Ösen und Lasche. Innensohle. Ein ganz normaler Stiefel eben.«
»Welche Farbe?«
»Schwarz.«
»Zustand?«
»Getragen. Das Leder weich und biegsam, schmiegt sich in die Hand.«
»Und wie riecht er?«
»Er duftet warm nach Leder.«
»Ich muss sagen - ich muss sagen - es hört sich verlockend an.«
»Dann schlag ihn dir aus dem Kopf.«
»Wieso?«
Schweigen.
»Willst du nicht antworten, Bruder?«
»Es ist kein Stiefel mehr da.«
»Kein Stiefel?«
»Nein.«
»Das macht mich traurig.«
»Ich habe ihn gegessen.«
»Du hast den Stiefel gegessen?«
»Ja.«
»Hat er geschmeckt?«
»Nein. Haben die Zigaretten geschmeckt?«
»Nein. Mir ist schlecht davon geworden.«
»Mir von dem Stiefel auch.«
»Es war einmal eine Banane, die hing an einem Baum. Sie wuchs und reifte, bis sie groß, fest, gelb und duftend war. Dann fiel sie zu Boden, jemand fand sie und aß sie, und danach ging es ihm besser.«
»Verzeih mir. Ich möchte um Verzeihung bitten für alles, was ich gesagt und getan habe. Ich bin ein schlechter Mensch«, schluchzte er.
»Aber nein. Du bist der wertvollste, wunderbarste Mensch auf Erden. Komm, Bruder, lass uns zusammen sein. Lass uns einander ein Festmahl sein.«
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