Ich entschied mich für das Probieren. Ich vergewisserte mich, dass keine Haie in der Nähe waren. Ich drehte mich auf den Bauch, hielt mich an der Plane fest und streckte langsam ein Bein nach unten. Mein Fuß tauchte ins Wasser. Es war angenehm kühl. Die Insel lag nur ein klein wenig tiefer und schimmerte im Wasser. Ich streckte mich. Ich rechnete damit, dass die Illusion jeden Augenblick zerplatzen würde wie eine Seifenblase.
Aber das tat sie nicht. Mein Fuß tauchte ins klare Wasser und traf auf federnden, doch festen Grund. Ich verlagerte mehr Gewicht auf den Fuß. Die Illusion verschwand noch immer nicht. Jetzt stellte ich mich ganz darauf. Und sank nach wie vor nicht ein. Ich konnte es nicht glauben.
Am Ende war es doch nicht der Fuß, sondern die Nase, die entschied, dass ich Land gefunden hatte. Üppig und frisch und überwältigend eroberte er meine Geruchsnerven: der Duft der Vegetation. Ich sog ihn tief ein. Nach Monaten, in denen alles, was meine Nase zu riechen bekam, nach Salzwasser gerochen hatte, war der organische Geruch von grünen Pflanzen geradezu betörend. Nun war ich überzeugt, und das Einzige, was ins Schwimmen geriet, war mein Verstand; meine Gedanken wurden immer wirrer. Das Bein zitterte.
»Mein Gott! Mein Gott!«, stöhnte ich.
Ich fiel über Bord.
Der doppelte Schock von festem Untergrund und kühlem Wasser brachte mich genügend zur Besinnung, dass ich mich auf die Insel schleppen konnte. Ich stammelte noch ein paar unzusammenhängende Worte als Dank an Gott, dann sank ich zusammen.
Aber ich konnte nicht ruhig liegen bleiben. Dazu war ich zu aufgeregt. Ich mühte mich, wieder auf die Beine zu kommen. Alles Blut strömte aus meinem Kopf. Der Boden unter mir schwankte heftig. Die Welt verschwamm mir vor den Augen. Ich dachte, ich würde ohnmächtig. Ich atmete tief durch. Zu mehr als Keuchen schien ich nicht fähig. Immerhin konnte ich mich wieder aufsetzen.
»Land, Richard Parker!«, rief ich. »Land! Wir sind gerettet!«
Der Pflanzengeruch war außerordentlich stark. Und das Grün hatte etwas so Frisches, Beruhigendes, dass es war, als strömten Trost und Stärke im wahrsten Sinne des Wortes durch meine Augen in mich ein.
Was war dieses merkwürdige Röhren-Seegras mit seinen endlosen Windungen? Konnte man es essen? Es schien eher eine Art Alge, aber weitaus kräftiger als die Algen, die man sonst im Meer findet. Wenn man es anfasste, fühlte es sich feucht und frisch an. Ich zog daran. Ranken ließen sich ohne allzu große Mühe abbrechen. Sie bestanden aus zwei konzentrischen Röhren: der feuchten, ein wenig rauen und so betörend grünen äußeren Hülle und einer zweiten etwa auf halbem Wege zwischen Außenwand und Mittelpunkt. Da die innere weiß war, war deutlich zu sehen, wo die eine Röhre endete und die andere begann; die Intensität des Grüns der äußeren Röhre nahm nach innen hin ab. Ich roch an einem Stück Alge. Es roch angenehm nach Gemüse, aber einen besonderen Geruch hatte es nicht. Ich leckte daran. Mein Puls schlug schneller. Süßwasser tropfte heraus.
Ich biss hinein. Es war ein Schock. Die innere Röhre war bitter und salzig - aber die äußere war nicht nur genießbar, sie schmeckte wunderbar. Meine Zunge zitterte wie ein Finger, der in einem Wörterbuch blättert, auf der Suche nach einem lang vergessenen Wort. Ich fand es, und ich schloss die Augen vor Verzückung, als ich es hörte: süß. Nicht im Sinne von Süßwasser, sondern zuckersüß. Man kann vieles über den Geschmack von Fischen und Schildkröten sagen, aber niemals, unter keinen Umständen, sind sie süß. Die leichte Süße des Algensafts war noch köstlicher als der Sirup, den wir hier in Kanada aus unseren Ahornbäumen gewinnen. Den Biss der äußeren Röhre würde ich am ehesten mit Wasserkastanien vergleichen.
Speichel bahnte sich einen Weg durch das dick verkrustete Innere meines Munds. Unter lauten Begeisterungsrufen rupfte ich ein Algenstück nach dem anderen ab. Die beiden Röhren ließen sich ohne weiteres voneinander trennen. Mit beiden Händen stopfte ich mir die süßen Stücke in den Mund, der schon lange nicht mehr so schnell und so heftig gearbeitet hatte. Ich aß so viel, dass bald um mich herum ein regelrechter Graben klaffte.
Ein einzelner Baum stand etwa sechzig Meter weit entfernt. Es war der einzige Baum nahe am Wasser; die anderen standen oben auf der Anhöhe, die recht weit fort schien. Obwohl das Wort Anhöhe vielleicht eine zu große Erhebung erwarten lässt. Die Insel war, wie gesagt, flach. Der Anstieg zur Mitte hin war sanft, und die Höhe mag fünfzehn oder zwanzig Meter betragen haben. Aber bei der Verfassung, in der ich war, war mir, als türme sich ein Berg über mir. Den Baum fand ich einladender. Er warf einen Schatten. Noch einmal versuchte ich, auf die Beine zu kommen. Ich kam bis in die Hocke, doch sobald ich versuchte mich aufzurichten, drehte sich mir alles und ich verlor das Gleichgewicht. Und selbst wenn ich die Balance gehalten hätte, wären meine Beine zu schwach gewesen. Aber ich war fest entschlossen. Ich kroch, schleppte mich, hüpfte zu dem Baum wie ein entkräfteter Frosch.
Ich weiß, ich werde nie wieder so froh sein wie in dem Augenblick, in dem ich in den flirrenden, schimmernden Schatten des Baumes eintauchte und das kühle, trockene Rauschen der Blätter hörte. Der Baum war nicht so groß und so hoch wie die Bäume weiter landeinwärts, und da er auf der falschen Seite der Anhöhe stand, da wo er Wind und Wetter mehr ausgesetzt war, sah er ein wenig zerzaust aus und nicht ganz so ebenmäßig wie seine Artgenossen. Aber es war ein Baum, und ein Baum ist ein wunderbarer Anblick, wenn man so lange Zeit schiffbrüchig auf dem Ozean getrieben ist. Ich sang ein Loblied auf diesen Baum, auf seine ruhige, unerschütterliche Reinheit, seine gelassene Schönheit. Könnte ich doch nur sein wie er, tief verwurzelt in der Erde und die Hände gen Himmel erhoben, um Gott zu preisen! Ich weinte.
Im Herzen pries ich Allah, doch mein Verstand hatte sich bereits an die Arbeit gemacht und studierte Allahs Werke. Die Bäume wuchsen tatsächlich auf den Algen, so wie ich es vom Rettungsboot aus gesehen hatte. Nirgendwo eine Spur von Erde. Entweder konnte man sie von oben nicht sehen, oder diese Bäume waren ein bemerkenswertes Beispiel für Schmarotzertum. Der Stamm hatte etwa den gleichen Durchmesser wie der Brustkorb eines erwachsenen Mannes. Die Rinde war graugrün gefärbt, dünn und glatt und so weich, dass ich sie mit dem Fingernagel einritzen konnte. Die breiten herzförmigen Blätter endeten in einer Spitze. Die Krone des Baumes war rund und ebenmäßig wie die eines Mangobaums, aber es war kein Mangobaum. Der Geruch erinnerte mich an einen Lotosbaum, aber es war auch kein Lotosbaum. Und auch keine Mangrove. Einen solchen Baum hatte ich noch nie gesehen. Ich weiß nur, dass er schön und grün und üppig belaubt war.
Ich hörte ein Knurren. Ich wandte mich um. Richard Parker beobachtete mich vom Rettungsboot aus. Auch er musterte die Insel. Offenbar wollte er an Land kommen und traute sich nicht. Nachdem er eine Zeit lang fauchend auf- und abgewandert war, sprang er schließlich von Bord. Ich setzte die orangefarbene Trillerpfeife an die Lippen. Aber er führte nichts Böses im Schilde. Er hatte große Mühe, das Gleichgewicht zu halten, und war ebenso unsicher auf den Beinen wie ich. Er kroch geduckt über den Boden und zitterte wie ein Neugeborenes. Er machte einen weiten Bogen um mich und bewegte sich auf die Anhöhe zu, dann verschwand er im Inneren der Insel.
Ich verbrachte den Tag mit Essen, Ausruhen und vorsichtigen Stehversuchen und fühlte mich wie im siebten Himmel. Wenn ich mich zu sehr anstrengte, wurde mir übel. Und ich hatte ständig das Gefühl, als schwanke der Boden unter meinen Füßen, als würde ich jeden Moment umfallen, sogar wenn ich still saß.
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