Die Erdmännchen wandten den Blick ab. Sie drehten sich wie auf Kommando alle zum gleichen Zeitpunkt in die gleiche Richtung. Ich stieg aus dem Wasser, um zu sehen, was geschah. Es war Richard Parker. Er bestätigte meine Vermutung, dass diese Erdmännchen schon seit so vielen Generationen ohne natürliche Feinde lebten, dass jede Vorstellung von Fluchtabstand, überhaupt von Flucht oder Angst aus ihren Erbanlagen getilgt war. Richard Parker schritt durch die Menge und hinterließ eine Spur von Mord und Gewalt. Er verschlang ein Erdmännchen nach dem anderen, das Blut troff ihm aus dem Maul, und seine Opfer, Auge in Auge mit einem wilden Tiger, hüpften auf der Stelle, als wollten sie rufen »Ich bin dran! Ich bin dran! Ich bin dran!« Solche Szenen sollte ich immer wieder sehen. Nichts konnte die Erdmännchen aus ihrem gewohnten Leben reißen, das sie mit In-den-Teich-Starren und Algenknabbern verbrachten. Ob Richard Parker sich formvollendet anschlich, wie es sich für einen Tiger gehört, bevor er mit donnerndem Gebrüll über sie herfiel, oder ob er nur gleichgültig angeschlendert kam, für die Erdmännchen machte es keinen Unterschied. Sie waren nicht aus der Ruhe zu bringen und ließen sich alles gefallen.
Er tötete mehr, als er brauchte. Er tötete Erdmännchen, die er nicht fraß. Bei Tieren ist der Trieb zum Töten unabhängig vom Hunger. Nachdem ihm so lange kein Beutetier begegnet war, war nun, wo plötzlich so viele auf einmal zu haben waren, sein aufgestauter Jagdtrieb nicht zu bremsen.
Er war weit weg. Ich war nicht in Gefahr. Zumindest für den Augenblick.
Am nächsten Morgen, nachdem er verschwunden war, reinigte ich das Rettungsboot. Es war dringend nötig. Ich will mir die Beschreibung dieser Ansammlung von Menschen- und Tierskeletten, umgeben von den Überresten zahlloser Fische und Schildkröten, ersparen. Ich warf die ganze stinkende, ekelhafte Masse über Bord. Da ich nicht wagte, den Boden des Bootes zu betreten, aus Angst, Richard Parker könne Spuren meines Eindringens finden, musste ich alles mit dem Fischhaken von der Plane aus oder im Wasser stehend von der Seite erledigen. Gerüche und Flecken - gegen die der Fischhaken nichts nützte - spülte ich mit Eimern voll Meerwasser ab.
Am Abend bezog er kommentarlos sein neues, sauberes Quartier. Im Maul hatte er eine Reihe von toten Erdmännchen, die er im Laufe der Nacht verspeiste.
Ich verbrachte die folgenden Tage mit Essen und Trinken und Baden, beobachtete die Erdmännchen, machte Spaziergänge und Dauerläufe, ruhte mich aus und sammelte neue Kräfte. Wenn ich lief, bewegte ich mich geschmeidig und locker, und das Laufen versetzte mich in eine euphorische Stimmung. Meine Haut heilte. Die Schmerzen und Beschwerden verschwanden. Kurz gesagt: ich kehrte ins Leben zurück.
Ich erkundete die Insel. Eigentlich wollte ich sie umrunden, doch den Versuch gab ich auf. Ihren Durchmesser würde ich auf zehn bis elf Kilometer schätzen, und daraus ergab sich ein Umfang von rund dreißig Kilometern. So weit ich sah, war das Ufer überall gleich. Überall das gleiche, intensive Grün, der gleiche Höhenzug, der zum Ufer hin abfiel, und als Unterbrechung der Monotonie hie und da ein zerzauster Baum. Bei der Erkundung des Ufers machte ich eine außergewöhnliche Beobachtung: Je nach Wetter waren die Algen, und folglich die Insel selbst, unterschiedlich dicht und hoch. An sehr heißen Tagen war das Algengeflecht fest und dicht, die Insel wurde höher und der Aufstieg zur Mitte hin steiler. Die Veränderung ging langsam vonstatten und begann erst nach mehreren heißen Tagen hintereinander. Aber sie war unübersehbar. Ich glaube, sie hatte etwas mit dem Wasserhaushalt zu tun, damit, dass dann ein geringerer Teil der Algenoberfläche den Sonnenstrahlen ausgesetzt war.
Das umgekehrte Phänomen - dass die Insel schlaffer wurde - stellte sich schneller ein, es war dramatischer anzusehen und leichter zu erklären. Zu solchen Zeiten senkte sich der Hügel, und der Kontinentalschelf, wenn wir ihn so nennen wollen, war weniger steil; am Ufer wurde die Alge so schlaff, dass ich mit den Füßen darin hängen blieb. Dieses Abschlaffen wurde von trübem Wetter verursacht und noch schneller von stürmischer See.
Einmal erlebte ich auf der Insel einen größeren Sturm, und nach den Erfahrungen dabei würde ich vermuten, dass sie auch dem schlimmsten Hurrikan standhält. Es war ein atemberaubendes Schauspiel. Ich saß in einem Baum und sah zu, wie gewaltige Wellen auf die Insel einstürmten, offenbar im Begriff, über die Uferkante zu schlagen und alles niederzuwalzen - und konnte mit ansehen, wie jede einzelne davon verschwand, als sei sie auf Treibsand gekommen. Das hatte die Insel mit Gandhi gemein: sie widerstand, indem sie keinen Widerstand leistete. Jede Welle wurde lautlos von der Insel aufgefangen, und nur ein wenig Schaum blieb zurück. Ein Beben im Boden und ein leichtes Schwappen der Teichoberflächen waren das einzige Zeichen, was für eine Kraft durch die Insel hindurchging. Und hindurch ging sie tatsächlich: auf der Windschattenseite traten, deutlich gedämpft, Wellen wieder aus und zogen ihres Weges. Es war ein äußerst kurioser Anblick, Wellen, die vom Ufer fort zogen. Der Sturm und die kleinen Erdbeben, die er mit sich brachte, erschütterte die Erdmännchen nicht im Geringsten. Sie gingen ihren Geschäften nach, als existierten die Elemente gar nicht.
Noch unverständlicher war, wie karg die Insel war. Noch nie war mir ein dermaßen reduziertes Ökosystem begegnet. In der Luft gab es keine Fliegen, keine Schmetterlinge, keine Bienen, überhaupt keine Insekten. Kein Vogel sang in den Bäumen. In der Ebene gab es keinen Nager, keine Made, keinen Wurm; keine Schlange und kein Skorpion verbarg sich dort, kein anderer Baum wuchs, kein Busch, keine Gräser, keine Blumen. In den Teichen lebten keine Süßwasserfische. Am Ufer gab es weder Tang noch Krabben noch Krebse, keine Kiesel, keine Korallen, keine Felsen. Mit der einen, allerdings großen Ausnahme der Erdmännchen gab es keine einzige andere Materie auf der Insel, ob organisch oder anorganisch. Sie bestand aus nichts als leuchtend grünen Algen mit leuchtend grünen Bäumen darauf.
Parasiten waren die Bäume nicht. Das stellte ich fest, als ich einmal unter einem jungen Baum saß und so viel Algen aß, dass ich seine Wurzeln freilegte. Ich sah, dass die Wurzeln nicht als eigenständige Gebilde in die Algen hineinwuchsen, sondern aus diesen heraus, dass sie eins mit ihnen waren. Es musste also entweder eine symbiotische Beziehung zwischen Baum und Alge sein, bei der beide zu beider Vorteil gaben und nahmen, oder, einfacher noch, der Baum war schlichtweg Bestandteil der Alge. Ich würde vermuten, dass es Letzteres war, denn die Bäume trugen anscheinend keine Blüten oder Früchte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein eigenständiger Organismus, auch wenn er sich auf eine noch so enge Symbiose einlässt, einen so entscheidenden Teil des Lebens wie die Fortpflanzung aufgeben würde. Die Blätter liebten das Sonnenlicht, sonst wären sie nicht so reichlich, so groß und so chlorophyllgrün gewesen, und daraus schließe ich, dass sie hauptsächlich zur Energiegewinnung da waren. Aber das ist Vermutung.
Eine letzte Beobachtung möchte ich noch anfügen. Sie beruht eher auf Intuition als auf echten Beweisen. Und zwar bin ich der Ansicht, dass die Insel gar keine Insel im herkömmlichen Sinne des Wortes war - keine Landmasse, die fest mit dem Ozeanboden verbunden ist -, sondern eher ein schwimmender Organismus, ein Algenknäuel von gigantischen Ausmaßen. Ich würde auch vermuten, dass die Teiche bis auf die Unterseite dieser gewaltigen schwimmenden Masse reichten und mit dem Meer in Verbindung standen, denn anders ist die Gegenwart von Doraden und anderen Hochseefischen nicht zu erklären.
All das wäre weitere Untersuchung wert, aber leider habe ich die Algen, die ich mitnahm, verloren.
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