Sie wollten mir nichts Böses. Sie kamen zu mir heraufgeklettert, setzten sich neben mich, auf michund kletterten weiter. Sie stiegen in den Baum, bis jeder Ast dicht besetzt war. Der Baum bog sich unter ihrem Gewicht. Auch mein Bett übernahmen sie. Und so ging es überall, so weit das Auge reichte. Sie stiegen auf jeden Baum in Sicht. Der ganze Wald wurde braun, wie ein Herbst, der binnen Minuten hereinbricht. Alle zusammen, wie sie in großen Scharen vorbeigestürmt kamen, um unbesetzte Bäume tiefer im Wald zu erobern, machten mehr Lärm als eine Elefantenherde in wilder Panik.
Die Ebene lag leer und verlassen da.
Von der Koje, die ich mit einem Tiger teilte, zum entschieden überbelegten Schlafsaal der Erdmännchen - wer würde mir da widersprechen, wenn ich sage, dass das Leben schon manche Überraschung parat hält? Ich musste mit Erdmännchen rangeln, damit ich einen Platz in meinem eigenen Bett bekam. Rundum kuschelten sie sich an mich. Kein Daumenbreit blieb frei.
Sie richteten sich ein, und das Quietschen und Zirpen verstummte. Stille kehrte ein im Baum. Wir schliefen.
In der Morgendämmerung erwachte ich und fand mich unter einer lebendigen Pelzdecke. Ein paar Erdmännchenkinder hatten die wärmeren Stellen meines Körpers entdeckt. Mir war heiß von dem dichten Fellkragen um meinen Hals - und was sich so wohlig an meine Schläfe kuschelte, musste dann wohl die Mutter sein -, und andere hatten es sich zwischen meinen Beinen bequem gemacht.
Ebenso rasch und ohne Umschweife, wie sie ihn erobert hatten, verließen sie den Baum wieder. Und genauso ging es bei sämtlichen anderen Bäumen weit und breit. Die Ebene war zusehends von Erdmännchen bevölkert, und die Luft füllte sich mit den Geräuschen ihres neuen Tags. Der Baum sah verlassen aus. Und ich fühlte mich auch ein wenig verlassen. Es war schön gewesen, bei den Erdmännchen zu schlafen.
Von da an schlief ich jede Nacht in dem Baum. Ich nahm ein paar nützliche Dinge aus dem Boot mit und richtete mir ein hübsches Baumhaus ein. Ich gewöhnte mich an die Kratzer, die mir die Erdmännchen oft unabsichtlich zufügten, wenn sie über mich kletterten. Meine einzige Beschwerde wäre, dass diejenigen, die weiter oben im Baum saßen, mich manchmal bekackten.
Eines Nachts weckten mich die Erdmännchen. Sie schnatterten und waren in heller Aufregung. Ich setzte mich auf und schaute in die Richtung, in die sie blickten. Der Himmel war wolkenlos, und es herrschte Vollmond. Sämtliche Farbe war aus der Landschaft gewichen. Alles schimmerte in geheimnisvollen Schwarz-, Grau- und Weißtönen. Es war der Teich. Darin bewegten sich silberne Formen, sie tauchten auf und durchbrachen die schwarze Oberfläche des Wassers.
Fische. Tote Fische. Sie kamen aus der Tiefe an die Oberfläche. Der Teich - sein Durchmesser betrug, wie gesagt, immerhin zwölf Meter - füllte sich mit toten Fischen, bis die Oberfläche nicht mehr schwarz, sondern silbern war. Und da das Wasser nicht zur Ruhe kam, mussten wohl immer noch mehr tote Fische nachkommen.
Als schließlich ein toter Hai lautlos aus der Tiefe auftauchte, waren die Erdmännchen außer sich vor Erregung und machten einen Lärm wie tropische Vögel. Die Hysterie griff auch auf die benachbarten Bäume über. Es war ohrenbetäubend. Ich fragte mich, ob ich wohl gleich mit ansehen würde, wie sie die Fische auf die Bäume holten.
Aber kein einziges Erdmännchen kletterte hinunter zum Teich. Sie zeigten keinerlei Anstalten dazu. Sie machten nur lauthals ihrer Enttäuschung Luft.
Mir war der Anblick von so vielen toten Fischen unheimlich. Sinister.
Ich legte mich wieder hin und versuchte trotz allem Erdmännchengezeter wieder einzuschlafen. Beim ersten Tageslicht wurde ich aus dem Schlaf gerissen von dem Tumult, den sie veranstalteten, als sie alle gleichzeitig den Baum verließen. Ich gähnte und streckte mich und sah hinunter zu dem Teich, der in der Nacht für so viel Aufregung gesorgt hatte.
Er war leer. Zumindest beinahe. Aber es war nicht das Werk der Erdmännchen. Die schickten sich eben erst an, die Reste herauszufischen.
Die Fische waren verschwunden. Nun war ich vollends verblüfft. War es der falsche Teich? Nein, es war eindeutig der, den ich in der Nacht gesehen hatte. War ich sicher, dass nicht die Erdmännchen ihn leergefischt hatten? Ja, vollkommen sicher. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie einen ganzen Hai aus dem Wasser gezogen und auf ihren Rücken abtransportiert hatten. Und Richard Parker? Dem hätte ich es zugetraut, aber nicht einen ganzen Teich in einer einzigen Nacht.
Es war ein völliges Rätsel. So sehr ich auch in den Teich und auf seine grünen Flanken starrte, es gab keine Erklärung, was mit den Fischen passiert war. In der nächsten Nacht blieb ich wach, aber es tauchten keine neuen Fische auf.
Die Lösung des Rätsels fand ich einige Zeit später, tief im Wald.
In der Mitte des Waldes waren die Bäume höher und standen dicht beieinander. Darunter wuchs nichts, denn es gab keinerlei Unterholz, oben aber war das Blätterdach so dicht, dass der Himmel nicht zu sehen war, oder, um es anders auszudrücken, der Himmel war einfarbig grün. Der Abstand zwischen den Bäumen war so gering, dass ihre Äste sich berührten; sie wuchsen ineinander und bildeten ein dichtes Geflecht, sodass man kaum noch sagen konnte, wo ein Baum endete und der nächste begann. Mir fiel auf, dass sie glatte, unversehrte Stämme hatten, ohne die vielen winzigen Kratzspuren, die die Erdmännchen sonst auf der Rinde hinterließen. Ich erriet schnell, warum das so war: Die Erdmännchen mussten hier nicht hinauf- oder hinunterklettern, wenn sie von einem Baum zum anderen gelangen wollten. Den Beweis lieferten zahlreiche Bäume am äußeren Rand des dichten Waldes, deren Rinde in Fetzen herabhing. Diese Bäume dienten also als Eingangstore zu einer Baumstadt der Erdmännchen, in der es hektischer zuging als in Kalkutta.
Und dort fand ich den Baum. Es war weder der größte im Wald noch lag er genau in der Mitte, und er war auch sonst nicht bemerkenswert. Er hatte gute, waagerechte Äste, mehr nicht. Ein idealer Baum für jemanden, der den Himmel ansehen oder das nächtliche Treiben der Erdmännchen beobachten wollte.
Ich weiß noch genau, an welchem Tag ich diesen Baum entdeckte: es war der Tag, bevor ich die Insel verließ.
Der Baum fiel mir auf, weil er anscheinend Früchte trug. Wo ansonsten das Blätterdach gleichförmig grün war, hoben sich diese Früchte schwarz ab. Die Zweige, an denen sie hingen, waren in seltsamen Formen gewunden. Ich sah mich genauer um. Eine ganze Insel voller Bäume, die keine Frucht trugen - bis auf diesen einen. Und auch dieser nicht einmal ganz. Die Früchte konzentrierten sich auf eine einzige Stelle des Baums. Vielleicht war er unter den Bäumen eine Art Bienenkönigin; ich fragte mich, welche Überraschungen die eigentümliche Biologie dieser Algen wohl noch für mich bereit halten mochte.
Ich hätte gern eine Frucht probiert, aber sie hingen zu weit oben. Ich ging ein Seil holen. Wenn die Algen schon so gut schmeckten, wie würden dann erst ihre Früchte sein?
Ich schlang das Seil um den untersten Ast und zog mich hinauf, und von da drang ich Ast um Ast, Zweig um Zweig zu dem kleinen geheimnisvollen Obstgarten vor.
Von nahem betrachtet, waren die Früchte dunkelgrün. In Form und Größe ähnelten sie Orangen. Jede war von einem Geflecht von Zweigen umgeben, die bis ganz an sie heranreichten - als Schutz, nahm ich an. Als ich näher kam, sah ich, dass diese Zweige die Frucht auch hielten. Sie hing nicht an einem einzelnen Stiel, sondern an Dutzenden. Die Oberfläche war übersät mit Stängeln, die sie mit den umgebenden Zweigen verbanden. Früchte, die so viel Verankerung brauchten, waren mit Sicherheit schwer und saftig. Ich kam oben an.
Ich fasste eine Frucht und wog sie in der Hand. Ich war enttäuscht, wie leicht sie war. Sie wog so gut wie nichts. Ich zog daran und pflückte sie von all ihren Stängeln.
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