Allan erwog die Alternative, nämlich in Paris zu bleiben, wo er garantiert jeden Tag alle Hände voll damit zu tun haben würde, die Botschafterin und ihren Mann davon abzuhalten, diplomatische Krisen zu verursachen, wann immer sie den Mund aufmachten. Da Amanda und Herbert zu zweit waren und Allan sich unmöglich an zwei Orten gleichzeitig aufhalten konnte, nahm er das Angebot des geheimen Hutton an. Es klang einfach ein bisschen geruhsamer. Außerdem wäre es sicher schön, Julij nach all den Jahren wiederzusehen.
Der verbarg jetzt zwar immer noch das Gesicht in den Händen, aber mit einem Auge linste er schon zwischen den Fingern hindurch. Ob Julij von Herbert Einstein gehört habe? Tatsächlich erinnerte sich Julij an ihn, und er meinte, es wäre wahrhaftig eine gute Nachricht, sollte auch Herbert die Entführung und das Straflager überlebt haben, in das Berija ihn geschickt hatte.
O ja, der habe auch überlebt, bestätigte Allan. Und dann erzählte er in groben Zügen von den zwanzig Jahren, die sie miteinander verbracht hatten. Wie sein Freund erst immer nur sterben wollte, seine Meinung in diesem Punkt aber komplett revidiert hatte, als er dann wirklich sterben musste, nämlich ganz überraschend im Dezember des letzten Jahres im Alter von sechsundsiebzig Jahren. Er hinterließ eine erfolgreiche Ehefrau – eine Diplomatin in Paris – und zwei halbwüchsige Kinder. Nach letzten Berichten aus der französischen Hauptstadt hatte die Familie Herberts Ableben gut verkraftet, und Frau Einstein war in einflussreichen Kreisen sehr beliebt. Ihr Französisch war zwar immer noch schrecklich schlecht, aber das machte auch einen Teil ihres Charmes aus, denn so schien es, als würde sie manchmal Dummheiten von sich geben, die unmöglich so gemeint sein konnten.
»Aber ich fürchte, wir sind inzwischen ganz vom Thema abgekommen«, sagte Allan. »Du hast vergessen, meine Frage zu beantworten. Willst du zur Abwechslung nicht mal Spion werden?«
»Allan Emmanuel, ich bitte dich! Das ist doch unmöglich. Ich bin für meine Dienste am Vaterland mehr ausgezeichnet worden als jeder andere Zivilist der modernen sowjetischen Geschichte. Es ist vollkommen ausgeschlossen , dass ich Spion werde!«, erwiderte Julij und hob das sechste Glas Wodka an die Lippen.
»Sag das nicht, lieber Julij«, widersprach Larissa, woraufhin den sechsten Wodka dasselbe Schicksal ereilte wie den fünften.
»Wäre es nicht besser, wenn du deinen Schnaps trinken würdest, statt ihn ständig über andere Leute zu versprühen?«, fragte Allan liebenswürdig.
Daraufhin legte Larissa Popowa ihre Gedanken dar, während ihr Mann sich wieder die Hände vors Gesicht hielt. Sie meinte, dass Julij und sie demnächst fünfundsechzig werden würden, und was hätten sie der Sowjetunion eigentlich zu verdanken? Freilich, ihr Mann sei doppelt und dreifach ausgezeichnet worden, schön und gut, und das bedeute ja auch mal gute Karten für die Oper. Aber ansonsten?
Sie wartete die Antwort ihres Mannes gar nicht erst ab, sondern fuhr fort, dass sie in Arzamas-16 eingesperrt waren, einer Stadt, deren Name allein schon Depressionen auslösen konnte. Und dann auch noch hinter Stacheldraht. Ja, ja, sie wisse wohl, dass sie kommen und gehen konnten, wie sie wollten, aber Julij solle sie jetzt gefälligst nicht unterbrechen, denn sie sei noch lange nicht fertig.
Für wen rackere Julij sich denn ununterbrochen ab? Erst für Stalin, der nicht ganz richtig im Kopf war. Dann für Chruschtschow, der nur einmal ein Zeichen von menschlicher Wärme gezeigt hatte, als er nämlich Marschall Berija hinrichten ließ. Und jetzt war es Breschnew – und der stank einfach!
»Aber Larissa!«, rief Julij Borissowitsch erschrocken aus.
»Hör mir auf mit deinem ›Larissa‹, lieber Julij. Du hast selbst gesagt, dass Breschnew stinkt.«
Und so fuhr sie fort, dass Allan Emmanuel geradezu wie bestellt aufgetaucht war, denn in letzter Zeit war sie immer niedergeschlagener gewesen bei dem Gedanken, dass sie auch noch hinter diesem Stacheldrahtzaun sterben sollte, in einer Stadt, die es offiziell gar nicht gab. Würden sie überhaupt richtige Grabsteine bekommen? Oder sollten die zur Sicherheit vielleicht auch noch verschlüsselt beschriftet werden?
»Hier ruhen Genosse X und seine treue Gattin Y«, sagte Larissa.
Julij antwortete nicht. Seine liebe Frau mochte in gewisser Hinsicht ansatzweise recht haben. Inzwischen war sie beim Finale angelangt:
»Warum willst du denn nicht noch ein paar Jahre mit deinem Freund spionieren? Danach können wir mit seiner Hilfe nach New York fliehen und dort jeden Abend in die Met gehen. Dann könnten wir tatsächlich noch mal leben, lieber Julij, bevor wir sterben müssen.«
Während es ganz so aussah, als würde Julij resignieren, fuhr Allan fort, die Hintergründe etwas genauer zu erläutern. Er habe wie gesagt über Umwege diesen Herrn Hutton in Paris kennengelernt, einen Mann, der dem ehemaligen Präsidenten Johnson offenbar nahegestanden habe und zudem eine hohe Stellung in der CIA innehatte.
Als Hutton gehört hatte, dass Julij Borissowitsch einmal mit Allan bekannt gewesen war und ihm außerdem vielleicht einen Gefallen schuldete, hatte Hutton einen Plan ausgearbeitet.
Bei den globalen politischen Aspekten dieses Plans hatte Allan nicht so genau hingehört, denn wenn die Leute von Politik anfingen, klappte er gern mal die Ohren zu. Reflexartig, sozusagen.
Der sowjetische Kernphysiker, der sich inzwischen wieder etwas gefasst hatte, nickte verständnisvoll. Politik war auch nicht unbedingt sein Lieblingsthema. Er war zwar mit Leib und Seele Sozialist, aber wenn jemand ihn bat, seinen Standpunkt darzulegen, hatte er ein Problem.
Im Folgenden unternahm Allan einen ehrlichen Versuch zusammenzufassen, was der geheime Hutton noch so gesagt hatte. Es lief auf jeden Fall darauf hinaus, dass die Sowjetunion die USA entweder mit Kernwaffen angreifen könnte, oder auch nicht.
Julij nickte bestätigend, dass dem so war. Entweder oder, damit war zu rechnen.
Des Weiteren hatte der CIA-Mann Hutton, wenn Allan sich recht erinnerte, seine Besorgnis über die Konsequenzen eines sowjetischen Angriffs auf die USA zum Ausdruck gebracht. Denn selbst wenn das sowjetische Nuklearwaffenarsenal so klein war, dass die USA damit nur ein lächerliches einziges Mal ausgelöscht werden könnten, fand Hutton das immer noch schlimm genug.
Julij Borissowitsch nickte ein drittes Mal und meinte, es wäre schon wirklich hässlich für das amerikanische Volk, wenn die USA ausgelöscht werden würden.
Doch wie Hutton diese Gleichung am Ende aufgehen ließ, konnte Allan nicht mehr recht sagen. Aus irgendeinem Grund wollte er eben wissen, wie es um das sowjetische Kernwaffenarsenal bestellt war, und wenn er das wusste, konnte er Präsident Johnson empfehlen, Verhandlungen zur nuklearen Abrüstung mit der Sowjetunion zu beginnen. Obwohl – jetzt war Johnson ja gar nicht mehr Präsident, aber … ach, egal, Allan wusste es nicht. Mit der Politik war es doch immer das Gleiche: Sie war oftmals nicht nur unnötig, sondern zuweilen auch unnötig kompliziert.
Julij war zwar technischer Leiter des gesamten sowjetischen Kernwaffenprogramms, und er wusste auch alles über Strategie, Geografie und Umfang des Programms. Doch nach dreiundzwanzig Jahren im Dienst des sowjetischen Nuklearprogramms hatte er niemals an die Politik gedacht – und musste dies auch nicht, was gut für ihn und seine Gesundheit war. Er hatte ja im Laufe der Jahre drei verschiedene Staatschefs und obendrauf noch einen Marschall Berija überlebt. So lange zu leben und sich in einer so hohen Position zu halten, war nicht vielen mächtigen Männern vergönnt.
Julij wusste, welche Opfer Larissa hatte bringen müssen. Und nun – wo sie sich endlich eine Pension und eine Datscha am Schwarzen Meer verdient hatten – war der Grad ihrer Uneigennützigkeit größer denn je. Doch sie hatte sich nie beschwert. Niemals. Deswegen hörte Julij umso besser hin, als sie sagte:
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