Nein, so ein Glück hatte Allan nicht. Natürlich war auch überhaupt nicht sicher, dass Julij Borissowitsch und seine mutmaßliche Begleitung schon im Theater waren, aber wenn doch , dann war er nur wenige Meter vor seinem alten Freund vorbeigegangen, ohne etwas dabei zu denken. Was sollte Allan also tun? Er überlegte laut:
»Wenn du gerade in dieses Theater gegangen bist, lieber Julij Borissowitsch, dann wirst du ganz sicher in ein paar Stunden auch durch dieselbe Tür wieder hinausgehen. Aber da wirst du ja wieder aussehen wie alle anderen, genauso wie vorhin. Ich kann dich also gar nicht finden. Bleibt nur noch die Lösung, dass du mich findest.«
So musste es gehen. Allan lief in sein kleines Büro in der Botschaft, traf seine Vorkehrungen und kam rechtzeitig zurück, bevor Prinz Kalaf das Herz der Prinzessin Turandot zum Schmelzen brachte.
Was Allan während seiner Ausbildung durch den geheimen Hutton öfter als alles andere hatte wiederholen müssen, war das Wörtchen »Diskretion«. Ein erfolgreicher Agent durfte niemals Aufsehen erregen, er durfte nicht auffallen, er musste derart mit seiner Umgebung verschmelzen, dass er fast unsichtbar war.
»Haben Sie das begriffen, Herr Karlsson?«, hatte der geheime Hutton gefragt.
»Absolut, Herr Hutton«, hatte Allan geantwortet.
Die Vorstellung war ein umwerfender Erfolg: Birgit Nilsson und Franco Corelli hatten zwanzig Vorhänge. Daher dauerte es auch besonders lange, bis das Publikum den Saal verließ und die Menschen, die alle gleich aussahen, wieder über die Treppe hinausströmten. Was allen dabei auffiel, war der Mann auf der untersten Stufe, der mit beiden Händen ein selbst gebasteltes Plakat in die Luft hielt, auf dem stand:
ICH BIN
ALLAN
EMMANUEL
Allan Karlsson hatte die Ermahnungen des geheimen Hutton zwar durchaus verstanden, konnte jetzt aber keine Rücksicht darauf nehmen. In Huttons Paris mochte ja schon der Frühling eingezogen sein, aber in Moskau war es um diese Zeit noch kalt und dunkel. Allan fror, und er wollte Ergebnisse sehen. Erst hatte er ja Julijs Namen auf das Plakat schreiben wollen, aber dann entschied er, dass seine Indiskretion keine anderen Leute treffen sollte, sondern nur ihn selbst.
Larissa Alexandrowna Popowa, Julij Borissowitsch Popows Ehefrau, hakte sich liebevoll bei ihrem Mann unter und dankte ihm zum fünften Mal für das wundervolle Erlebnis. Diese Birgit Nilsson war ja die reinste Maria Callas! Und die Plätze ! Vierte Reihe, ganz in der Mitte. So glücklich war Larissa schon lange nicht mehr gewesen. Heute Abend sollten ihr Mann und sie obendrein im Hotel schlafen, sie hatten also fast noch vierundzwanzig Stunden, bis sie wieder in die grässliche Stadt hinter Stacheldraht zurückmussten. Noch ein romantisches Abendessen zu zweien … nur Julij und sie … und danach vielleicht sogar …
»Entschuldige, Liebling«, sagte Julij und blieb auf der obersten Treppenstufe vor dem Eingang stehen.
»Was ist denn, mein Lieber?«, fragte Larissa besorgt.
»Nein … es ist nichts … aber … Siehst du den Mann da unten mit dem Plakat? Das muss ich mir mal kurz näher ansehen … Das kann nicht sein … ich muss … Aber der ist doch tot! «
»Wer ist tot, Liebling?«
»Komm!«, sagte Julij und lotste seine Frau durch die Menschenmenge die Treppe hinunter.
Drei Meter vor Allan blieb er stehen und versuchte, mit dem Hirn zu erfassen, was seine Augen schon registriert hatten. Allan entdeckte den alten Freund, der ihn nur dumm anglotzen konnte, ließ sein Plakat sinken und fragte:
»Und, hat Birgit gut gesungen?«
Julij sagte immer noch keinen Ton, aber seine Frau flüsterte ihm die Frage zu, ob das der Mann sei, der angeblich tot sein sollte. Allan antwortete an Julijs Stelle und erklärte, nein, tot sei er nicht, aber ganz schön durchgefroren, und wenn das Ehepaar Popow sichergehen wollte, dass er nicht doch noch erfror, wäre es sicher das Beste, wenn sie ihn umgehend in ein Restaurant brachten, wo er einen Schluck Wodka und vielleicht auch einen Happen zu essen zu sich nehmen könnte.
» Du bist es wirklich …«, brachte Julij schließlich heraus. »Aber … du sprichst ja Russisch …?«
»Ja, direkt nach unserer letzten Begegnung hatte ich einen fünfjährigen Kurs in deiner Muttersprache«, sagte Allan. »Gulag hieß die Schule. Also, wie steht es jetzt mit dem Wodka?«
Julij Borissowitsch war ein äußerst moralischer Mann, den es einundzwanzig Jahre lang gequält hatte, dass er den schwedischen Atombombenexperten unfreiwillig nach Moskau gelockt hatte, von wo aus der Schwede nach Wladiwostok weitergeschickt wurde, um dort spätestens bei dem Brand ums Leben zu kommen, von dem jeder einigermaßen aufgeklärte Sowjetbürger wusste. Einundzwanzig Jahre lang hatte er gelitten, nicht zuletzt deswegen, weil ihm dieser Schwede mit seiner scheinbar grenzenlosen Fähigkeit, die Dinge positiv zu sehen, auf Anhieb so sympathisch gewesen war.
Jetzt stand Julij Borissowitsch bei fünfzehn Grad unter null vor dem Bolschoj-Theater in Moskau und … nein, er konnte es schier nicht fassen. Allan Emmanuel Karlsson hatte überlebt . Und er lebte immer noch. Und jetzt stand er vor Julij. Mitten in Moskau. Und sprach Russisch!
Julij Borissowitsch war seit vier Jahrzehnten glücklich mit Larissa Alexandrowna verheiratet. Kinder hatten sie nie bekommen, aber sie waren grenzenlos vertraut miteinander. Sie teilten alles, in guten wie in schlechten Zeiten, und mehr als einmal hatte Julij seiner Frau erzählt, wie traurig ihn Allan Emmanuel Karlssons Schicksal machte. Und während Julij immer noch versuchte, sein Hirn in Gang zu setzen, übernahm Larissa Alexandrowna das Kommando:
»Wenn ich das richtig verstanden habe, ist das hier also dein alter Freund, den du indirekt in den Tod geschickt hast. Wie wäre es denn, lieber Julij, wenn wir seinem Wunsch entsprächen und ihn auf direktem Wege in ein Restaurant bringen, um ihm ein bisschen Wodka einzuflößen – bevor er uns noch wirklich stirbt?«
Julij antwortete nicht, nickte aber und ließ sich von seiner Frau zur bereitstehenden Limousine führen, in der er neben seinen verstorbenen Kameraden gesetzt wurde, während die Frau dem Chauffeur Anweisungen gab.
»Zum Restaurant Puschkin bitte.«
Es brauchte zwei große Gläschen, bis Allan aufgetaut war, und noch mal zwei, bevor Julij langsam wieder wie ein Mensch funktionierte. Dazwischen machten sich Allan und Larissa miteinander bekannt.
Als Julij es endlich begriffen hatte, ging sein Schock in Freude über (»Jetzt wollen wir feiern!«). Doch Allan hielt es für angebracht, gleich zum Thema zu kommen. Wenn man etwas zu sagen hatte, war es immer gut, gleich damit rauszurücken.
»Was hältst du davon, Spion zu werden?«, fragte Allan. »Bin ich nämlich auch, das ist wirklich ganz spannend.«
Julij bekam seinen fünften Wodka in die falsche Kehle und hustete ihn quer über den Tisch.
»Spion?«, wiederholte Larissa, während ihr Mann weiterhustete.
»Ja, oder Agent. Ich muss gestehen, ich weiß auch nicht so recht, was der Unterschied ist.«
»Das ist ja interessant. Erzählen Sie uns doch mehr, lieber Allan Emmanuel.«
»Nein, tu das nicht, Allan«, hustete Julij. »Tu das nicht. Wir wollen gar nicht mehr wissen! «
»Red doch keinen Unsinn, lieber Julij«, sagte Larissa. »Dein Freund muss dir doch von seiner Arbeit erzählen dürfen, nachdem ihr euch so viele Jahre nicht gesehen habt. Erzähl nur weiter, Allan Emmanuel.«
Allan erzählte weiter, und Larissa hörte interessiert zu, während Julij das Gesicht die ganze Zeit in den Händen verbarg. Allan erzählte von seinem Abendessen mit Präsident Johnson und dem geheimen Hutton von der CIA und vom Treffen am nächsten Tag, bei dem Hutton ihm vorschlug, nach Moskau zu fahren und herauszufinden, wie es um die sowjetischen Missiles bestellt war.
Читать дальше