»Welch gräßliche Musik«, sagte der Direktor leise, »wie das nächtliche Geheul eines kaukasischen Esels. Was wohl die Worte bedeuten mögen?«
»Werden genauso sinnlos sein wie die Melodie«, antwortete der Lehrer.
Ich wollte auf Zehenspitzen davonschleichen.
Da bemerkte ich, daß der schwere Damaststoff sich leise bewegte. Ich sah mich vorsichtig um. Ein alter Mann mit schneeweißem Haar und seltsam hellen Augen stand hinter dem Vorhang, lauschte der Musik und weinte: Seine Exzellenz Seinal Aga, der Vater Iljas Begs. Seine weichen Hände mit dicken, blauen Adern zitterten. Diese Hände, die kaum den Namen ihres Besitzers aufzuschreiben vermochten, herrschten über siebzig Millionen Rubel.
Ich blickte weg. Er war ein einfacher Bauer, dieser Seinal Aga, doch er verstand mehr von der Kunst der Sänger als die Lehrer, die uns für reif erklärt hatten.
Das Lied war zu Ende. Die Musikanten stimmten eine kaukasische Tanzmelodie an. Ich ging durch den Saal. Die Schüler standen in Gruppen. Sie tranken Wein. Auch die Mohammedaner. Ich trank nicht.
Mädchen, Freundinnen und Geschwister unserer Kameraden schwatzten in den Ecken miteinander. Es waren viele Russinnen dabei, mit blonden Zöpfen, blauen oder grauen Augen und gepuderten Herzen. Sie unterhielten sich nur mit Russen, bestenfalls mit Armeniern und Georgiern. Sprach ein Mohammedaner sie an, so kicherten sie verlegen, antworteten ein paar Worte und wandten sich ab.
Jemand klappte das Klavier auf. Walzer. Der Direktor tanzte mit der Tochter des Gouverneurs.
Da, endlich! Von der Treppe her ihre Stimme:
»Guten Abend, Iljas Beg. Etwas verspätet. Es war aber nicht meine Schuld.«
Ich stürzte hinaus. Nein, Nino trug kein Abendkleid und keine Galauniform des Lyzeums der hl. Tamar. Ihre Taille war fest geschnürt und so schmal, daß ich glaubte, sie mit einer Hand umspannen zu können. Eine kurze Sammetweste mit goldenen Knöpfen war über ihre Schulter geworfen. Ein langer schwarzer Rock, gleichfalls aus Sammet, fiel bis auf die Füße. Ich sah nur die vergoldeten Spitzen der Saffianpantoffel. Eine kleine runde Mütze saß auf ihren Haaren, und zwei Reihen schwerer, goldener Münzen hingen auf ihre Stirn hinab. Das uralte Festgewand einer georgischen Prinzessin und dazu das Gesicht einer byzantinischen Madonna.
Die Madonna lachte.
»Nein, Ali Khan. Du darfst nicht böse sein. Das Zuschnüren dieses Rockes dauert eine Stunde. Er stammt von der Großmama. Nur euch zu Ehren habe ich mich hineingezwängt.«
»Den ersten Tanz mit mir!« rief Iljas Beg.
Nino blickte mich fragend an. Ich nickte. Ich tanze ungern und schlecht, und Iljas Beg kann ich Nino anvertrauen. Er weiß, was sich gehört.
»Schamiis Gebet!« rief Iljas Beg.
Sofort fielen die blinden Musikanten ohne Übergang in eine wilde Melodie…
Iljas sprang in die Mitte des Saales. Er zog den Dolch. Seine Füße bewegten sich im feurigen Rhythmus des kaukasischen Bergtanzes. Die Schneide blitzte in seiner Hand. Nino tanzte an ihn heran. Ihre Füße waren wie kleine, seltsame Spielzeuge. Das Mysterium Schamiis begann. Wir klatschten im Takt der Musik. Nino war die Braut, die entführt werden sollte… Iljas nahm den Dolch zwischen die Zähne. Mit ausgebreiteten Armen, einem Raubvogel gleichend, kreiste er um das Mädchen. Wirbelnd flogen Ninos Füße durch den Saal. Ihre geschmeidigen Arme deuteten alle Stufen der Angst, der Verzweiflung und der Hingabe. In der linken Hand hielt sie ein Taschentuch. Ihr ganzer Körper zitterte. Nur die Münzen an ihrer Mütze lagen ruhig in Reih und Glied, das mußte so sein, und das war das Allerschwierigste an dem Tanz. Nur eine Georgierin kann sich so rasend durch den Saal drehen, ohne eine einzige Münze an ihrer Mütze erklirren zu lassen. Iljas jagte ihr nach. Unaufhörlich verfolgte er sie durch das weite Rund. Immer herrischer wurden die breiten Gesten seiner Arme, immer zärtlicher die abwehrenden Bewegungen Ninos. Endlich blieb sie stehen, einem erschrockenen, vom Jäger eingeholten Reh gleichend. Immer enger zog Iljas seine wilden Kreise. Schneller und schneller wurden seine Sprünge. Ninos Augen waren sanft und demütig. Ihre Hände bebten. Noch ein wildes, kurzes Aufheulen der Musik, und sie öffnete die Linke. Das Taschentuch fiel zu Boden. Und jäh sauste Iljas’ Dolch auf das kleine Stück Seide und nagelte es am Boden fest.
Die Symbolik des Liebestanzes war beendet…
Habe ich übrigens erwähnt, daß ich vor dem Tanz meinen Dolch Iljas Beg zusteckte und seinen Dolch an mich nahm? Es war meine Klinge, die Ninos Taschentuch durchstach. Es ist sicherer so, und eine weise Regel lehrt: »Bevor du dein Kamel dem Schutze Allahs anvertraust, binde es fest an deinen Zaun.«
»Als unsere glorreichen Ahnen, o Khan, dieses Land betraten, um sich einen großen und ge fürchteten Namen zu machen, da riefen sie ›Kara bak!‹ — Siehe… da liegt Schnee! Als sie sich aber den Bergen näherten und den Urwald sahen, da riefen sie ›Karabagh!‹ — Schwarzer Garten! Und seitdem heißt dieses Land Karabagh. Früher aber hieß es Sünik und noch früher Agwar. Denn du mußt wissen, o Khan, wir sind ein sehr altes und berühmtes Land.«
Mein Wirt, der alte Mustafa, bei dem ich mich in Schuscha eingemietet hatte, schwieg voll Würde, trank ein Gläschen karabaghischen Fruchtschnapses, schnitt sich ein Stück von dem seltsamen Käse ab, der aus unzähligen Fäden geflochten wird und wie ein Frauenzopf aussieht, und schwatzte weiter:
»In unsern Bergen wohnen die Karanlik, die dunklen Geister, und bewachen unsere Schätze, das weiß jeder. In den Wäldern aber stehen heilige Steine und fließen heilige Bäche. Bei uns gibt es alles. Geh durch die Stadt und schau, ob jemand arbeitet — fast niemand. Schau, ob jemand traurig ist — niemand! Ob jemand nüchtern ist — niemand! Staune, Herr!!«
Ich staunte über die köstliche Verlogenheit dieses Volkes. Es gibt keine Geschichte, die sie zur Verherrlichung ihres kleinen Landes nicht erfinden würden. Gestern wollte mir erst ein dicker Armenier einreden, daß die christliche Maras-Kirche in Schuscha fünftausend Jahre alt sei.
»Lüg doch nicht so«, sagte ich ihm, »das ganze Christentum ist noch keine zweitausend Jahre alt. Eine christliche Kirche kann doch nicht vor Christus erbaut worden sein.«
Der Dicke war sehr beleidigt und sagte vorwurfsvoll:
»Natürlich, du bist ein Mensch mit Bildung. Aber laß dich von einem alten Mann belehren: bei andern Völkern ist das Christentum möglicherweise erst zweitausend Jahre alt. Uns, das Volk von Karabagh, erleuchtete aber der Heiland schon dreitausend Jahre früher. So ist es.«
Fünf Minuten später erzählte mir derselbe Mann seelenruhig, daß der französische Marschall Murat ein Armenier aus Schuscha war. Er sei als Kind nach Frankreich gegangen, um auch dort den Namen Karabaghs berühmt zu machen.
Schon auf dem Wege nach Schuscha sagte der Kutscher, als wir über eine kleine Steinbrücke kamen:
»Diese Brücke hat Alexander der Große erbaut, als er zu unsterblichen Taten nach Persien zog.«
An der niederen Brüstung war groß die Jahreszahl »1897« eingemeißelt. Ich zeigte sie dem Kutscher, doch dieser winkte ab:
»Ach, Herr, das haben die Russen später eingesetzt, um unsern Ruhm zu schmälern.«
Schuscha war eine wunderliche Stadt. Fünftausend Meter hoch, von Armeniern und Mohammedanern bewohnt, bildete sie seit Jahrhunderten eine Brücke zwischen Kaukasus, Persien und Türkei. Es war eine schöne Stadt, umgeben von Bergen, Wäldern und Flüssen. Auf den Bergen und in den Tälern erhoben sich kleine Lehmhütten, die man hier in kindlicher Vermessenheit Paläste nannte. Dort wohnten die eingeborenen Feudalen, die armenischen Meliks und Nacharars und die mohammedanischen Begs und Agalars. Stundenlang saßen diese Menschen an der Schwelle ihrer Häuser, rauchten ihre Pfeifen und erzählten einander, wie oft Rußland und der Zar von Generälen aus Karabagh gerettet worden seien und was wohl aus dem großen Reich geworden wäre, wenn es kein Karabagh gäbe.
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