Er schloß die Tür hinter sich. Lillian hörte seine Pantoffeln eilig über den Korridor schlappen. Sein Abendanzug, dachte sie, das Symbol seiner Hoffnung auf Gesundheit, auf Freiheit, auf Nächte in Städten unten, seine Maskotte, so wie es für sie ihre eigenen beiden Abendkleider waren, die nutzlos hier oben waren, die sie aber nicht aufgab, als hinge ihr Leben davon ab. Wenn sie sie aufgab, gab sie die Hoffnung auf. Sie ging wieder zum Fenster und sah auf die Lichter unten. Ein großartiger Abend! Sie kannte viele solcher trostlosen, großartigen Abende!
Sie zog die Vorhänge zu. Da war die Panik wieder! Sie suchte nach den versteckten Schlaftabletten. Einen Augenblick glaubte sie, draußen Clerfayts Motor zu hören. Sie sah auf die Uhr. Er hätte sie retten können vor der langen Nacht; aber sie konnte ihn nicht anrufen. Hatte Hollmann nicht gesagt, er habe Besuch? Von wem? Von irgendeinem gesunden Frauenzimmer aus Paris oder Mailand oder Monte Carlo! Zum Teufel mit ihm, er fuhr ohnehin in ein paar Tagen ab! Sie schluckte die Tabletten. Ich sollte mich ergeben, dachte sie, ich sollte tun, was Boris sagt, ich sollte damit leben, ich sollte nicht dagegen kämpfen, ich sollte mich ergeben, aber wenn ich mich ergebe, bin ich verloren!
Sie setzte sich an ihren Tisch und holte Briefpapier hervor. »Geliebter«, schrieb sie. »Du mit dem undeutlichen Gesicht, Unbekannter, nie Gekommener, immer Erwarteter, fühlst Du nicht, daß die Zeit ausrinnt — ?« und dann hörte sie auf zu schreiben und stieß die Kassette, in der schon viele nie abgeschickte Briefe lagen, Briefe, für die sie keine Adresse wußte, vom Tisch und blickte auf das weiße Blatt vor sich und dachte: Weshalb weine ich? Davon wird es doch auch nicht anders —
Der alte Mann lag so flach unter seiner Decke, als habe er keinen Körper mehr. Sein Kopf war abgezehrt, die Augen lagen sehr tief, aber sie hatten ein starkes Blau; die Adern standen dick unter der Haut, die wie zerknittertes Seidenpapier aussah. Er lag in einem schmalen Bett in einem schmalen Zimmer. Neben dem Bett stand auf dem Nachttisch ein Schachbrett.
Er hieß Richter. Er war achtzig Jahre alt und lebte seit zwanzig Jahren im Sanatorium. Anfangs hatte er in einem Doppelzimmer im ersten Stock gewohnt; dann in einem Einzelzimmer im zweiten Stock mit Balkon; anschließend in einem Zimmer ohne Balkon im dritten Stock — und jetzt, seit er kein Geld mehr hatte, lebte er in dieser schmalen Kammer. Er war das Renommierstück des Sanatoriums. Der Dalai Lama wies stets auf ihn, wenn er mutlose Patienten hatte; dafür erwies sich Richter dankbar. Er starb und starb nicht. Lillian saß an seinem Bett. »Sehen Sie sich das an!« sagte Richter und zeigte auf das Schachbrett. »Der Mann spielt wie ein Nachtwächter. Dieser Zug mit dem Springer macht ihn doch in den nächsten zehn Zügen matt. Was ist nur jetzt mit Regnier los? Früher spielte er gut. Waren Sie schon hier während des Krieges?«
»Nein«, sagte Lillian.
»Er ist während des Krieges gekommen, 1944 glaube ich. Das war eine Erlösung! Vorher — meine liebe junge Dame — vorher mußte ich ein Jahr lang gegen einen Schachklub in Zürich spielen. Wir hatten niemand hier oben. Es war sehr langweilig.«
Schach war Richters einzige Leidenschaft. Während des Krieges waren die Partner, die er in den Sanatorien gehabt hatte, abgereist oder gestorben, und neue waren nicht hinzugekommen. Zwei Freunde aus Deutschland, mit denen er brieflich gespielt hatte, waren in Russland gefallen; ein anderer wurde bei Stalingrad gefangengenommen. Ein paar Monate lang war Richter ganz ohne Partner gewesen; er war lebensmüde geworden und hatte Gewicht verloren. Dann hatte der Chefarzt arrangiert, daß er gegen Mitglieder eines Schachklubs in Zürich spielen konnte. Die meisten davon aber waren nicht stark genug für ihn; mit den paar andern wurde es ihm zu langwierig. Im Anfang hatte der ungeduldige Richter die Züge über das Telefon gemacht; doch das wurde zu teuer, und er war auf Briefe hin und her angewiesen, so daß er praktisch nur jeden zweiten Tag einen Zug machen konnte, da die Post so lange dauerte. Mit der Zeit war selbst das eingeschlafen, und Richter war wieder darauf angewiesen, alte Partien aus Büchern nachzuspielen.
Dann war Regnier gekommen. Er spielte eine Partie mit Richter, und Richter war selig, endlich wieder einen würdigen Gegner zu haben; aber Regnier, ein Franzose, der aus einem deutschen Gefangenenlager befreit worden war, weigerte sich weiterzuspielen, als er hörte, daß Richter Deutscher sei. Nationale Feindschaften machten auch vor dem Sanatorium nicht halt. Richter begann wieder dahinzusiechen, auch Regnier wurde bettlägerig. Beide langweilten sich; aber keiner wollte nachgeben. Ein Neger aus Jamaica, der zum Christentum übergetreten war, fand schließlich eine Lösung. Auch er war bettlägerig. In zwei separaten Briefen lud er Richter und Regnier zu je einer Schachpartie mit sich ein, von Bett zu Bett, über das Telefon. Beide waren hocherfreut. Die einzige Schwierigkeit war, daß der Neger keine Ahnung von Schach hatte, doch er löste das auf einfache Weise. Er spielte gegen Richter mit den weißen Figuren, gegen Regnier schwarz. Da Weiß den ersten Zug hatte, machte Regnier ihn auf dem Brett, das neben seinem Bett stand, und telefonierte mit dem Neger. Der telefonierte ihn zu Richter, wo er weiß spielte. Dann wartete er auf Richters Gegenzug und telefonierte ihn Regnier. Regniers zweiten Zug telefonierte er wieder an Richter und Richters Antwort an Regnier. Er selbst hatte nicht einmal ein Brett, da er ja nichts weiter tat, als Regnier und Richter, ohne daß sie es wußten, gegeneinander spielen zu lassen. Sein Trick war, daß er eine Partie weiß, die andere schwarz spielte — hätte er beide weiß oder beide schwarz gespielt, dann hätte er die Züge nicht weitergeben können, sondern hätte sie selbst machen müssen.
Kurz nach dem Ende des Krieges starb der Neger. Regnier und Richter hatten inzwischen kleinere Zimmer nehmen müssen, da beide verarmt waren — der eine war bettlägerig im dritten, der andere im zweiten Stock. Das Krokodil übernahm jetzt die Rolle des Negers, damit die Partien weitergingen, und die Zimmerschwestern übermittelten die Züge der Gegner, die immer noch glaubten, gegen den Neger zu spielen, von dem ihnen gesagt worden war, daß er wegen einer vorgeschrittenen Kehlkopftuberkulose jetzt nicht mehr sprechen konnte. Das ging gut, bis Regnier wieder aufstehen konnte. Er wollte als erstes den Neger besuchen und fand so alles heraus.
Inzwischen hatten sich die nationalen Gefühle etwas beruhigt. Als Regnier hörte, daß Richters Angehörige in Deutschland bei Luftangriffen getötet worden waren, schloß er Frieden, und beide spielten seitdem einträchtig miteinander. Mit der Zeit war auch Regnier wieder bettlägerig geworden, und da beide jetzt kein Telefon mehr hatten, vermittelten ein paar Patienten für sie die Botendienste. Lillian auch. Dann war Regnier vor drei Wochen gestorben. Richter war um diese Zeit so schwach gewesen, daß man auch seinen Tod erwartete, und niemand wollte ihm sagen, daß Regnier tot sei. Um ihn zu täuschen, war das Krokodil als Partner eingesprungen; es hatte inzwischen selbst spielen gelernt, war aber natürlich kein Gegner für Richter. Daher kam es, daß Richter, der immer noch glaubte, es sei Regnier, sich nicht genug darüber wundern konnte, was für ein Idiot dieser so gute Spieler plötzlich geworden war.
* * *
»Wollen Sie nicht Schach lernen«, fragte er Lillian, die ihm den letzten Zug des Krokodils überbracht hatte. »Ich kann es Ihnen rasch beibringen.«
Lillian sah die Angst in den blauen Augen. Der alte Mann glaubte, daß Regnier bald sterben würde, da er so schlecht spielte, und er hatte Angst, wieder ohne Partner zu sein. Er fragte jeden, der ihn besuchte.
Читать дальше