»Was soll ich werden?« jammerte Eva Moser jetzt in voller Panik. »Sekretärin? Wer nimmt mich schon? Ich kann nur schlecht Schreibmaschine schreiben. Viele Leute haben auch Angst vor Sekretärinnen, die aus einem Sanatorium kommen.«
»Werden Sie Sekretärin bei einem Lungenkranken«, krächzte der Graubart.
Lillian betrachtete Eva, als wäre sie ein prähistorisches Tier, das plötzlich aus einem Bodenspalt gekrochen war. Sie hatte auch früher schon Patienten gesehen, die entlassen worden waren und behauptet hatten, lieber bleiben zu wollen — doch das war nur höfliche Rücksichtnahme auf die Zurückbleibenden gewesen, um das merkwürdige Gefühl der Desertion, das die Entlassung begleitete, zu mildern. Aber Eva Moser war ein anderer Fall; sie meinte, was sie sagte. Sie war ehrlich verzweifelt. Sie hatte sich an das Sanatorium gewöhnt. Sie hatte Angst vor dem Leben unten.
Dolores Palmer schob Lillian ein Glas Wodka zu. »Diese Person!« sagte sie und blickte angeekelt auf Eva. »Keine Manieren! Wie sie sich benimmt! Geradezu obszön, wie?«
»Ich gehe«, erklärte Lillian. »Ich kann das nicht aushalten.«
»Geh nicht!« sagte Charles Ney und beugte sich zu ihr. »Schönes, flackerndes Licht im Ungewissen, bleibe noch! Die Nacht ist voll Schatten und Platitüden, und wir brauchen dich und Dolores als Galionsfiguren vor unseren zerfetzten Segeln, um nicht von den entsetzlichen Plattfüßen Eva Mosers zerstampft zu werden. Sing etwas, Lillian!«
»Auch das noch? Was? Ein Wiegenlied für Kinder, die nie geboren werden?«
»Eva wird Kinder haben! Viele — keine Sorge! Nein, sing das Lied von den Wolken, die nicht wiederkommen und von dem Schnee, der das Herz begräbt. Das Lied von den Verbannten der Berge. Sing es für uns! Nicht für die Küchenmeduse Eva. Wir brauchen den dunklen Wein der Selbstverherrlichung heute nacht, glaube es mir. Hemmungslose Sentimentalität ist noch besser als Tränen.«
»Charles hat irgendwo eine halbe Flasche Kognak erwischt«, stellte Dolores sachlich fest und ging auf ihren hohen Beinen zum Grammophon. »Spiel die neuen amerikanischen Platten, Schirmer!«
»Dieses Monster«, seufzte Charles Ney hinter ihr her.
»Sie sieht aus wie alle Poesie der Welt und hat ein Gehirn wie eine Statistik. Ich liebe sie, wie man den Dschungel liebt, und sie antwortet wie ein Gemüsegarten. Was macht man da?«
»Man leidet und ist glücklich.«
Lillian erhob sich. Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür, und das Krokodil stand im Rahmen.
»Das habe ich mir doch gedacht! Zigaretten! Alkohol auf dem Zimmer! Eine Orgie! Sogar Sie dabei, Fräulein Ruesch!« zischte sie zu Streptomycin-Lilly hinüber. »Auf Krücken hereingeschlichen! Und Herr Schirmer, Sie auch! Sie sollten im Bett sein!«
»Ich sollte längst tot sein«, erwiderte der Graubart fröhlich. »Theoretisch bin ich es auch.« Er stellte das Grammophon ab, zog die seidene Unterwäsche aus dem Lautsprecher und schwenkte sie in der Luft. »Ich lebe von geborgtem Leben! Dafür gelten andere Gesetze als für das, worin man geboren ist.«
»So? Und was für welche, wenn ich fragen darf?«
»Keine andern als die, so viel davon zu haben, wie möglich. Wie man das erzielt, ist jedermanns eigene Sache.«
»Ich muß Sie ersuchen, sofort zu Bett zu gehen. Wer hat Sie hierher gefahren?«
»Meine Vernunft.«
Der Graubart kletterte in seinen Wagen. André zögerte, ihn fortzuschieben. Lillian trat vor. »Ich bringe Sie zurück.« Sie schob den Wagen zur Tür.
»Sie also!« sagte das Krokodil. »Das hätte ich mir denken können!«
Lillian schob den Wagen auf den Korridor. Charles Ney und die andern folgten. Sie kicherten wie ertappte Kinder. »Einen Augenblick!« sagte Schirmer und drehte den Wagen noch einmal zur Tür. Das Krokodil stand hoheitsvoll davor. »Von dem, was Sie im Leben versäumt haben«, erklärte Schirmer, »könnten drei Kranke ein glückliches Dasein führen. Eine gesegnete Nacht mit einem gusseisernen Gewissen!« Er drehte den Wagen zum Korridor. Charles Ney schob ihn weiter. »Wozu so viel moralische Erregung, Schirmer?« fragte er. »Das brave Tier tut doch nur seine Pflicht.«
»Ich weiß. Sie tut sie nur so verdammt überheblich. Aber ich werde sie schon noch überleben! Ich habe ihre Vorgängerin erlebt — sie war nur vierundvierzig und starb plötzlich in vier Wochen an Krebs — , ich werde auch dieses Biest — wie alt ist das Krokodil eigentlich? Doch sicher über sechzig! Oder fast siebzig! Ich werde auch sie überleben!«
»Ein schönes Ziel! Edle Menschen sind wir!« grinste Charles.
»Nein«, erwiderte der Graubart mit grimmiger Genugtuung. »Wir sind zum Tode verurteilt. Aber nicht nur wir allein. Die andern auch! Alle! Alle! Wir wissen es nur. Die andern nicht.«
* * *
Eva Moser kam eine halbe Stunde später in Lillians Zimmer. »Ist mein Bett hier?« fragte sie.
»Ihr Bett?«
»Ja. Mein Zimmer ist ausgeräumt. Auch meine Kleider sind fort. Ich muß doch noch irgendwo schlafen. Wo mögen meine Sachen sein?«
Es war einer der üblichen Scherze, wenn jemand aus dem Sanatorium entlassen wurde, in der letzten Nacht seine Sachen zu verstecken. Eva Moser war verzweifelt. »Ich hatte schon alles bügeln lassen. Wenn sie es nun schmutzig machen! Ich muß auf mein Geld achten, jetzt, wo ich hinuntergehe.«
»Sorgt Ihr Vater unten nicht für Sie?«
»Er will mich loswerden. Ich glaube, er will wieder heiraten.«
Lillian hatte plötzlich das Gefühl, das Mädchen keine Minute länger mehr ertragen zu können. »Gehen Sie zum Fahrstuhl«, sagte sie. »Verstecken Sie sich, bis Charles Ney herauskommt. Er kommt zu mir. Gehen Sie dann in sein Zimmer; er wird es nicht abgeschlossen haben. Rufen Sie mich von dort an. Sagen Sie, daß Sie seinen Smoking in heißes Wasser werfen und seine Wäsche mit Tinte begießen werden, wenn Ihr Bett und Ihre Sachen nicht sofort zurückgebracht werden. Verstanden?«
»Ja, aber —«
»Man hat sie nur versteckt. Ich weiß nicht, wer. Aber ich würde erstaunt sein, wenn Charles Ney nichts davon wüsste.«
Lillian hob das Telefon ab. »Charles?«
Sie winkte Eva Moser zu gehen. »Charles«, sagte sie, »kannst du einen Augenblick bei mir vorbeikommen? Ja? Gut.«
Er kam ein paar Minuten später. »Was ist mit dem Krokodil passiert?« fragte Lillian.
»Alles in Ordnung. Dolores macht das meisterhaft. So etwas an Verstellung! Sie hat einfach die Wahrheit gesagt — daß wir unsere Verzweiflung darüber, hier bleiben zu müssen, betäuben wollten. Glänzende Idee. Ich glaube, das Krokodil hatte fast eine Träne im Auge, als es ging.«
Das Telefon klingelte. Eva Mosers Stimme war so laut, daß Charles sie verstehen konnte. »Sie ist in deinem Badezimmer«, sagte Lillian. »Sie hat heißes Wasser eingelassen. In der linken Hand hält sie deinen neuen Abendanzug, in der rechten deine türkisfarbene Füllfedertinte. Versuche nicht, sie zu überraschen. Im Moment, wo du die Tür öffnest, handelt sie. Hier, sprich mit ihr.«
Sie gab ihm den Hörer und ging zum Fenster. Das Palace Hotel im Dorf war noch erleuchtet. In zwei bis drei Wochen würde auch das vorbei sein. Die Touristen würden davonfliegen wie Zugvögel, und das lange, eintönige Jahr würde sich durch Frühjahr, Sommer und Herbst weiter bis zum nächsten Winter schleppen.
Das Telefon klinkte hinter ihr. »Dieses Luder!« sagte Charles Ney mißtrauisch. »In ihrem eigenen Kopf ist das nicht gewachsen! Weshalb hast du mich hierher gerufen?«
»Ich wollte wissen, was das Krokodil gesagt hat.«
»Du bist sonst nicht so eilig!« Charles grinste. »Wir werden morgen noch darüber reden. Jetzt muß ich meinen Abendanzug retten! Die Tölpelin ist fähig, ihn zu kochen! Gute Nacht. Es war ein großartiger Abend!«
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