Lillian wollte zuerst umkehren; dann sah sie Hollmann. Er saß allein neben einem Tisch mit den drei schwarzgekleideten Südamerikanern, die auf den Tod Manuelas warteten, und winkte ihr zu.
»Ich habe Giuseppe heute gefahren«, sagte er.
»Haben Sie es gesehen?«
»Ja. Hat jemand sonst Sie noch gesehen?«
»Wer?«
»Das Krokodil? Oder der Dalai Lama?«
»Niemand. Der Wagen war an der Übungswiese geparkt. Da kann man ihn nicht sehen. Und wenn schon! Ich bin glücklich. Ich glaubte schon, ich könne die verdammte Karre nicht mehr fahren.«
»Jeder scheint heute abend glücklich zu sein«, erwiderte Lillian bitter. »Sehen Sie sich das da an!«
Sie zeigte auf den Tisch, an dem Eva Moser mit erhitztem, dicklichem Gesicht saß, umringt von ihren teilnehmenden und neidischen Freunden. Sie saß da wie jemand, der das Große Los gezogen hat und plötzlich nicht weiß, wie er zu all der überraschenden Teilnahme kommt.
»Und Sie?« fragte Lillian Hollmann. »Haben Sie Ihre Temperatur gemessen?«
Hollmann lachte. »Das hat Zeit bis morgen. Heute will ich nicht daran denken.«
»Glauben Sie nicht, daß Sie Fieber haben?«
»Es ist mir egal. Und ich glaube es nicht.«
Wozu frage ich ihn das, dachte Lillian. Bin ich auf ihn neidisch, so wie alle auf Eva Moser? »Kommt Clerfayt heute abend nicht?« fragte sie.
»Nein. Er hat heute nachmittag überraschend Besuch bekommen. Wozu soll er auch immer heraufkommen? Es muß langweilig sein für ihn.«
»Warum fährt er dann nicht weg?« fragte Lillian ärgerlich.
»Er fährt; aber erst in ein paar Tagen. Mittwoch oder Donnerstag.«
»Diese Woche?«
»Ja. Ich nehme an, er wird mit seinem Besuch hinunterfahren.«
Lillian antwortete nicht; sie wußte nicht genau, ob Hollmann ihr das absichtlich erzählte, und da sie es nicht wußte, nahm sie an, es sei Absicht und fragte deshalb nicht weiter. »Haben Sie etwas zu trinken bei sich?« fragte sie.
»Nicht einen Tropfen. Ich habe den Rest meines Gins heute nachmittag Charles Ney geschenkt.«
»Haben Sie nicht eine Flasche Wodka geholt, heute Mittag?«
»Die habe ich Dolores Palmer gegeben.«
»Warum? Wollen Sie plötzlich Modellpatient werden?«
»Ungefähr das«, erwiderte Hollmann etwas verlegen.
»Heute Mittag waren Sie alles andere.«
»Gerade deswegen«, sagte Hollmann. »Ich will wieder fahren.«
Lillian schob ihren Teller zurück. »Und mit wem reiße ich denn von nun an abends aus?«
»Da sind doch genug. Und Clerfayt ist ja auch noch hier.«
»Ja. Und nachher?«
»Kommt Boris heute abend nicht?«
»Nein, er kommt nicht. Und mit Boris kann man nicht ausreißen. Ich habe ihm gesagt, ich hätte Kopfschmerzen.«
»Haben Sie welche?«
»Ja.« Lillian stand auf. »Ich werde sogar das Krokodil heute abend glücklich machen, damit alle glücklich sind. Ich werde schlafen gehen. In Morpheus' Armen. Gute Nacht, Hollmann.«
»Ist irgend etwas los, Lillian?«
»Nichts als das Übliche. Langeweile. Ein Zeichen von gutem Befinden, würde der Dalai Lama sagen. Wenn es einem wirklich schlecht geht, soll es angeblich keine Panik mehr geben. Man soll zu schwach dazu sein. Wie gütig Gott ist, was?«
Die Nachtschwester hatte ihre Abendrunde beendet. Lillian saß auf ihrem Bett und versuchte zu lesen. Nach einer Weile schob sie das Buch beiseite. Wieder lag die Nacht vor ihr, das Warten auf den Schlaf, der Schlaf und dann das jähe Aufschrecken aus dem Schlaf und der gewichtslose Moment, wo man nichts wieder erkannte, nicht das Zimmer und nicht sich selbst, wo man im sausenden Dunkel hing und nichts als Angst war, neblige Todesangst, endlose Sekunden lang — bis das Fenster langsam wieder vertraut wurde und kein Schattenkreuz im unbekannten Chaos mehr war, sondern Fenster wieder, und das Zimmer Zimmer, und das Knäuel aus Ur-Furcht und lautlosem Schrei wieder sie, für kurze Zeit auf Erden Lillian Dunkerque genannt.
Es klopfte. Charles Ney stand draußen in einem roten Schlafrock und Pantoffeln. »Alles ist klar«, flüsterte er. »Komm rüber zu Dolores! Abschiedsfeier für Eva Moser.«
»Wozu? Warum geht sie nicht? Wozu muß sie noch Abschied feiern?«
»Wir wollen eine Abschiedsfeier. Nicht sie.«
»Ihr habt doch schon eine im Esszimmer gehabt.«
»Nur um die Schwester zu täuschen. Komm, sei keine Trauerweide!«
»Ich habe keine Lust.«
Charles Ney kniete an ihrem Bett nieder. »Komm, Lillian, Geheimnis aus Mond, Silber und rauchigem Feuer! Wenn du hier bleibst, wirst du dich ärgern, allein zu sein — wenn du drüben bist, wirst du dich ärgern, hingekommen zu sein. Es ist also dasselbe — komm deshalb!« Er horchte zum Korridor und öffnete die Tür. Man hörte das Stapfen von Krücken. Eine hagere ältere Frau hinkte vorbei. »Alle kommen! Da ist Streptomycin-Lilly bereits. Und da kommt Schirmer mit André.«
Ein Graubart in einem Krankenstuhl wurde von einem jungen Mann im Charlestonschritt vorbeigefahren. »Du siehst, selbst Tote stehen auf, um Fräulein Moser ein Ave Caesar, morituri te salutant darzubringen«, erklärte Charles Ney. »Vergiß dein russisches Erbe auf einen Abend, und besinne dich auf deinen heiteren wallonischen Vater. Zieh dich an und komm!«
»Ich ziehe mich nicht an. Ich komme in Pyjamas!«
»Komm in Pyjamas, aber komm!«
* * *
Dolores Palmer wohnte ein Stockwerk tiefer als Lillian. Sie lebte dort seit drei Jahren in einem Appartement, das aus einem Schlafzimmer, einem Wohnzimmer und einem Bad bestand. Sie bezahlte die höchste Miete des Sanatoriums und nutzte die Rücksicht, die man darauf nahm, bedenkenlos aus.
»Wir haben zwei Flaschen Wodka für dich im Badezimmer«, sagte sie zu Lillian. »Wo willst du sitzen? Neben der Debütantin, die ins gesunde Leben wandert, oder unter den hektischen Zurückbleibenden? Such dir einen Platz.«
Lillian sah sich um. Es war ein Bild, das sie kannte: Die Lampen waren mit Tüchern verhängt, der Graubart bediente das Grammophon, dessen Lautsprecher mit hineingestopfter Wäsche gedämpft war, und Streptomycin-Lilly saß auf dem Boden in einer Ecke, weil ihr Gleichgewichtssinn durch die Droge unsicher geworden war und sie leicht umfiel. Die andern hockten herum in der halben, etwas künstlichen Bohemestimmung überalterter Kinder, die heimlich zu lange aufbleiben. Dolores Palmer trug ein chinesisches Kostüm, ein langes, unten geschlitztes Kleid. Sie war von einer tragischen Schönheit, die sie selbst nicht empfand. Ihre Liebhaber gingen daran irre wie Reisende an einer Fata Morgana. Während sie sich in Extravaganzen erschöpften, wollte Dolores eigentlich nichts weiter als ein einfaches Leben führen, Kleinbürgerlichkeit mit allem Luxus. Große Gefühle langweilten sie, aber sie inspirierte sie und mußte mit ihnen kämpfen.
Eva Moser saß neben dem Fenster und schaute hinaus. Ihre glückliche Stimmung war umgeschlagen. »Sie heult«, sagte Maria Savini zu Lillian. »Was sagst du dazu?«
»Warum?«
»Frag sie selbst; du wirst es nicht glauben. Sie hält dies für ihr Zuhause.«
»Es ist mein Zuhause«, sagte Eva Moser. »Hier bin ich glücklich gewesen. Hier habe ich Freunde. Unten kenne ich niemand.«
Alle schwiegen einen Augenblick. »Sie können ja hier bleiben«, sagte Charles Ney dann. »Niemand hindert Sie.«
»Doch! Mein Vater. Es ist zu teuer, wenn ich hier bleibe. Er will, daß ich einen Beruf lerne. Was für einen Beruf? Ich kann doch nichts! Und das bißchen, was ich gekonnt habe, habe ich hier verlernt.«
»Hier verlernt man alles«, erklärte Streptomycin-Lilly friedlich aus ihrer Ecke heraus. »Wer ein paar Jahre hier ist, taugt nicht mehr für unten.«
Lilly war seit Jahren das Versuchskaninchen des Dalai Lama für neue Kuren. Er probierte im Augenblick Streptomycin an ihr aus. Sie vertrug es nicht gut, aber selbst wenn der Dalai Lama es aufgeben sollte und sie entlassen würde, konnte ihr nichts ähnliches wie Eva Moser passieren. Sie war als einziger Patient des Sanatoriums im Ort geboren und konnte leicht überall eine Stellung finden. Sie war eine vorzügliche Köchin.
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