Mittlerweile war es Nacht geworden, und es war an der Zeit, ins Hotel zurückzukehren, wo Gerda und Virgili Stancu auf mich warteten. Wir verabschiedeten uns schweren Herzens und verabredeten uns für den nächsten Tag zu einem gemeinsamen Abendessen zu viert in dem Hotel, in dem wir untergebracht waren. Ich wollte nicht, dass Regina irgendwelche Ausgaben hatte, denn obwohl sie eine hervorragende Berufsmusikerin war, wusste ich, wie schwierig es für sie sein musste, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ich wollte ihr noch nichts verraten, bevor ich nicht mit meinen beiden Kollegen gesprochen hatte, aber ich dachte, es wäre eine schöne Idee, sie nach Holland einzuladen und ein Konzert mit ihr zu planen. Ich rechnete fest mit dem Einverständnis der beiden anderen, mir gegenüber hatten sie nämlich alle mit großer Bewunderung über Reginas Vortragsweise gesprochen.
Am darauffolgenden Tag wollte ich sie nach dem Abendessen nach Hause begleiten, doch sie meinte, das wäre nicht nötig, es würde sonst nur zu spät für mich werden. Sie willigte aber ein, sich von mir ein Taxi rufen und den Betrag für die Fahrt dem Chauffeur im Voraus begleichen zu lassen. Wir verabschiedeten uns mit einer festen und freundschaftlichen Umarmung, und ich dachte ein bisschen wehmütig daran, wie weich sich ihr Körper anfühlte und wie begehrenswert er vor einigen Jahren wohl gewesen sein musste.
Während des gesamten Abendessens hatte sie sich mehr mit Gerda, der Cellistin, als mit mir unterhalten. Die beiden waren sogar gemeinsam für geraume Zeit im Zimmer meiner Kollegin verschwunden. Als sie schließlich zurückkehrten, sah ich, dass Regina sich umgezogen hatte: Sie trug nun eines von Gerdas Konzertkleidern, ein dunkelblaues mit Spitze, das ihr sehr gut stand. Sie mussten aber auch das eine oder andere Geheimnis ausgetauscht haben.
Ich hatte mich nicht geirrt.
»Regina war von deinen Interpretationsvorschlägen sehr begeistert«, sagte Gerda am nächsten Tag zu mir. »Und auch von deinem Unterricht für die Schüler der Abschlussklassen. Du hast großen Eindruck auf sie gemacht.«
»Also, um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass es für die Schüler wichtig gewesen ist. Du hast doch gehört, wie sie spielen.«
»Aber du hast ihnen neue Perspektiven eröffnet, deine Sichtweise und deine Schule sind anders; Regina hat sich vor allem für die Kadenz interessiert.«
Sie machte eine Pause und wechselte das Thema:
»Hat sie dir eigentlich nichts von ihrem Leben erzählt?«
»Nein, ich habe sie auch nicht nach Einzelheiten gefragt, ich wollte nicht indiskret sein. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass sie diese Dinge traurig stimmen. Als sie mir berichtete, die Geige wäre von ihrem Onkel Daniel gebaut worden, hörte ich sie ganz leise hinzufügen: ›Gesegnet sei sein Andenken‹.«
»Ja«, bekräftigte Gerda, »die Erinnerung muss schmerzlich für sie sein. Fast alle der Ihren sind dem Holocaust zum Opfer gefallen. Ihre Mutter und ihre Großmutter starben im Krakauer Ghetto, ihr Vater und der ältere Bruder wurden von den Nazis in Auschwitz ermordet. Sie muss damals noch sehr jung gewesen sein. Wie sie wohl überleben konnte? Wahrscheinlich hat ihr die Musik geholfen, die unendlich vielen Schatten zu überwinden. Diese Aufzeichnungen hier gab sie mir für dich. Sie hat viele Zeugnisse von damals zusammengetragen und meinte, du hättest dich für ihre Geige interessiert und könntest so einen Teil ihrer Geschichte rekonstruieren.«
»Hast du sie gelesen?«
»Sie haben mich die halbe Nacht wach gehalten! Aber nun gehören sie dir. Sie hat sie mir für dich gegeben.«
Ich war sehr glücklich über diesen Freundschaftsbeweis. Zudem hatten wir Regina überreden können, uns zu besuchen und bei einigen Konzerten mitzuwirken, sobald alles organisiert wäre. Gerda, die immer ihren Kopf durchsetzt, nahm sich dieser Aufgabe an, und so wurde schon bald vereinbart, ihr bei einem unserer Auftritte den Violinpart in dem Erzherzog Rudolph gewidmeten Trio von Beethoven zu übergeben. Ich würde ihr mit Vergnügen meinen Part überlassen. Mit den weiteren Einzelheiten der Tournee wollten wir unseren Agenten, den Bruder der Cellistin, betrauen. Regina war bislang nur selten aus ihrem Land herausgekommen; ein Auslandsaufenthalt würde ihr gewiss neue Impulse geben. Drei Wochen, hatte sie zu uns gesagt, länger nicht, denn sonst würde sicherlich jemand versuchen, ihr den Lehrstuhl streitig zu machen.
Unsere Tournee näherte sich allmählich ihrem Ende; es stand noch ein letztes Konzert in Warschau auf dem Programm, dann würden wir getrennte Wege gehen: Gerda und Virgili würden nach Amsterdam fahren, ich zurück nach Paris in mein Studio, wo ich für die Aufnahme einer CD erwartet wurde. Auf dem Warschauer Flughafen saßen wir wegen des Nebels mehr als zwei Stunden fest. Ich nutzte die Zeit, um Reginas Aufzeichnungen zu lesen, die sie in holpriges Englisch übersetzt hatte. Nach den ersten paar Seiten dachte ich: Du musst sie Àngels geben, es wird sie brennend interessieren, doch bald vergaß ich alles und konzentrierte mich ganz auf die Notizen der Geigerin, in denen immer wieder ein Name auftauchte, der mir bekannt vorkam. Meine Kollegen mussten mich darauf aufmerksam machen, dass mein Flug schon aufgerufen worden war; ich hatte es nicht einmal gehört, so vertieft war ich in die Geschichte der Geige meiner Freundin, in diese Geschichte, die ich niemals mehr werde vergessen können.
UND ICH KOMME AN EINEN ORT,
WO ALLES LICHT ERLOSCHEN IST.
Dante, Göttliche Komödie, Die Hölle − IV, 151
Formblatt für Arrest- und Prügelstrafen 1942
Arrest:
Stufe I (mittel):
Bis zu 3 Tagen. Helle Zelle. Holzpritsche. Verpflegung: Wasser und Brot; jeden 4. Tag volle Verpflegung.
Stufe II (verschärft):
Bis zu 42 Tagen. Dunkle Zelle.
Holzpritsche. Verpflegung wie bei Stufe I.
Stufe III (streng):
Bis zu 3 Tagen. Dunkle Zelle. Ohne Gelegenheit zum Liegen und Sitzen.
Verpflegung: wie bei den anderen Stufen.
Körperliche Züchtigung:
Anzahl der Schläge: 5, 10, 15, 20, 25
Vorschriften:
Zuvor Untersuchung durch den Arzt! Schläge mit einer einrutigen Lederpeitsche kurz hintereinander verabfolgen, dabei Schläge zählen; Entkleiden und Entblössung gewisser Körperteile streng untersagt. Der zu bestrafende darf nicht angeschnallt werden, sondern hat frei auf einer Bank zu liegen. Es darf nur auf das Gesäss und die Oberschenkel geschlagen werden.
Stempel:
SS-WIRTSCHAFTS-VERWALTUNGSHAUPTAMT (WVHA)
Rentabilitätsberechnung der SS
über Ausnützung der Häftlinge in den
Konzentrationslagern
Täglicher Verleihlohn
durchschnittlich RM 6,-
abzüglich Ernährung RM -,60
durchschnittl. Lebensdauer
9 Mt. = 270 × RM 5,30 = RM 1431,-
abzüglich Bekl. Amort. RM -,10
Als Daniel aus der Arrestzelle kam – oder besser gesagt, als er herausgeholt wurde -, noch schwächer als zuvor, obwohl er nur vier Tage dort verbracht hatte, war er versucht, seinen inneren Antrieb zu verwünschen, der ihn hier in der Hölle hatte am Leben bleiben lassen. Dass es vier Tage gewesen waren, wusste er, weil er jeden Abend mit dem Fingernagel eine kleine Kerbe geritzt hatte, um das Zeitgefühl nicht zu verlieren.
Irgendwelche Erklärungen gab es nie, und man hielt sich hier auch nicht an Vorschriften. Sein Vergehen, und das seines Kameraden von der benachbarten Pritsche, war es gewesen, unglücklicherweise an einem jener dunklen und eisigen Morgen verschlafen und die Baracke nicht rechtzeitig verlassen zu haben. Sein ganzer Körper schmerzte noch von den Peitschenhieben, die er vor dem Arrest erhalten hatte, und von der harten Holzpritsche, die viel zu kurz für ihn war: absichtlich, davon war er überzeugt. Dabei befand er sich im Vergleich zu den anderen Häftlingen gewissermaßen in einer privilegierten Lage. Denn immerhin erwartete man ihn zur Arbeit im Haus des Lagerkommandanten zurück. Schwer zu sagen, wie lange seine Bestrafung sonst gedauert hätte.
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