Man brauchte einen langen Atem, um aus den Fehlern der Vergangenheit lernen zu können. Tief in seinem Innern wusste Jimmie Angel, dass das Land die Fehler, die zur augenblicklichen Wirtschaftskrise geführt hatten, schon bald korrigieren würde.
Als ganze Nation Kräfte zu sammeln und die richtigen Männer zu finden, die das Land aus der Krise führen konnten, war eine Sache. Es auch als Einzelner zu schaffen war etwas anderes, das wurde Jimmie in diesem Augenblick sehr klar.
Er war jetzt zweiunddreißig. Bald würden seine Arme nicht mehr die Kraft für komplizierte Pirouetten in der Luft aufbringen. Seine Reflexe würden nachlassen und er würde nicht mehr schnell genug auf unvorhergesehene Gefahren reagieren können. Gelegentlich flatterten ihm schon die Nerven, wenn er in klapprigen Maschinen hochexplosives Nitroglyzerin transportieren musste.
Er wusste auch, dass Virginia nicht locker lassen und ihm so lange zusetzen würde, bis ihm nichts anderes mehr übrig blieb, als einen Job in einem Büro anzunehmen oder sich damit abzufinden, als Postflieger einen Ort nach dem anderen abzuklappern wie ein Busfahrer.
Und zur gleichen Zeit lag ein Haufen Gold und Diamanten in einer Höhle auf McCrackens Berg, der jetzt sein Berg war, irgendwo in der gottverlassenen Gran Sabana. Bis jemand den Mut aufbrachte, die steilen wie mit einem Messer gezogenen Felswände des Tafelberges zu erklettern und sein Geheimnis zu lüften.
Müde setzte er sich auf die Stufen vor seinem Hauseingang und blickte still in die Nacht.
Es dauerte nicht lange, bis Virginia ihn da draußen bemerkte und in der Haustür erschien. Böse und besorgt zugleich fragte sie: »Was ist nun?«
»Ich fliege«, antwortete er heiser. »Ich fliege nach Venezuela!«
Dick Curry brauchte etwas länger als einen Monat, um seine Kneipe für einen Spottpreis zu verkaufen. Er musste die Hauptkosten der Unternehmung tragen, da Jimmie dazu nicht imstande war. Immerhin hatte er die moralische Verpflichtung, Virginia genug Geld dazulassen, damit sie über die Runden kam, bis er zurück war.
Die beiden Männer hofften zwar auf eine baldige Rückkehr, wussten aber auch, dass sie nur den Anfang der abenteuerlichen Expedition planen konnten. Alles Weitere hing davon ab, wie dicht die Wolkenwand war, die den Heiligen Berg verhüllte.
Ihre Nachforschungen hatten ergeben, dass sich südlich des Orinoco nicht viel geändert hatte, seit Jimmie das letzte Mal dort gewesen war. Allerdings konnten sie jetzt auf die unschätzbare Hilfe verlässlicher Karten bauen. Die venezolanische Armee hatte die Vermessung des Landes endlich abgeschlossen.
Ansonsten aber schien alles beim Alten geblieben zu sein: Dschungel, Wind, Stürme, sintflutartiger Regen, Banditen und »Menschenfresser«. Und noch immer war es in einem Umkreis von tausend Meilen so gut wie unmöglich, die Maschine aufzutanken.
Sie mussten sich zum größten Teil auf ihr Glück, ihre Intuition und Jimmies viel gerühmtes Orientierungsvermögen verlassen.
Ein mehr als tausend Meter hoher Tafelberg, der sich dreihundert Kilometer südlich des Orinoco und fünfzig Kilometer östlich des Río Caroní in den Himmel erhob: Das war alles, was sie wussten.
Es folgte eine zermürbende Suche nach einer geeigneten Gebrauchtmaschine. Nachdem sie die Vor- und Nachteile der Angebote angesichts der schwierigen Bedingungen, unter denen sie fliegen würden, sorgfältig abgewogen hatten, entschied sich Jimmie nach langem Hin und Her für einen einmotorigen Doppeldecker. Die Gipsy Moth war vor vier Jahren von De Havilland hergestellt worden und hatte einer Ölgesellschaft gehört, die die Maschine zum Transport von Nitroglyzerin eingesetzt hatte.
Später sollten sie den Entschluss bereuen angesichts der vielen Probleme, die sie ihnen nach ihrer ersten Bruchlandung bereitete. Doch als sie jetzt am Flughafen von Springfield über die Landebahn rollte, machte sie noch einen tadellosen und unversehrten Eindruck.
Tatsächlich war die Gipsy Moth eine extrem gut gebaute und robuste Maschine. Sie besaß einen hundertzwanzig PS starken Motor und erreichte eine Spitzengeschwindigkeit von hundertfünfzig Kilometern in der Stunde. Ihr außergewöhnlich großer Tankraum hatte es Lady Mary Bailey vor einigen Jahren ermöglicht, einen neuen Rekord aufzustellen und eine Flughöhe von fünftausend Metern zu erreichen.
Die aerodynamischen Tragflächen aus sorgfältig poliertem Holz, der spitze Bug, das grazil anmutende, aber durchaus zuverlässige Hauptfahrwerk und die breiten, gemütlichen Sitze ließen sie in Jimmies Augen für die heikle Mission, die ihnen bevorstand, ideal erscheinen. Zudem benötigte sie sehr wenig Raum zum Landen und Starten.
Doch das wichtigste Argument, das letztlich den Ausschlag gab, war der Preis: Er lag gerade noch im Rahmen dessen, was sie sich leisten konnten.
Bevor sie endgültig in den Süden aufbrachen, nahmen sie den Motor der Maschine komplett auseinander und bauten ihn wieder zusammen. Diese Prozedur wiederholten sie mehrere Male, bis sie sich mit allen Einzelheiten vertraut gemacht hatten und den Motor so gut kannten wie ihre eigene Westentasche.
Curry hatte noch nie einen Fuß in ein Flugzeug gesetzt, aber als Rennfahrer kannte er sich mit Motoren aus und war ein hervorragender Mechaniker. Beiden war bewusst, dass ihre Rückkehr von diesem schwierigen Unterfangen einzig und allein von einem einwandfrei funktionierenden Motor abhing.
Sie hatten eine Reise von dreizehntausend Kilometern vor sich, sechseinhalbtausend hin und sechseinhalbtausend zurück. Verdammt viele Flugstunden für eine Maschine, die bereits vier Jahre harten Einsatz auf dem Buckel und seit ihrer Konstruktion drüben im fernen England mehrmals den Besitzer gewechselt hatte.
Dreizehntausend Kilometer in der Luft, und darin waren nicht mal eventuelle Kursänderungen oder die eigentliche Suche nach dem Berg berücksichtigt. Zu viele Kilometer, wenn man recht darüber nachdachte, und zu viele vor allem, wenn man den Zustand der fragilen Maschine näher unter die Lupe nahm.
Zu diesem Schluss war anscheinend auch Virginia Angel gekommen, als sie eines Tages unangemeldet im Hangar auftauchte und das in lauter Einzelteile zerlegte Flugzeug studierte, das nur aus Holz- und Metallstücken bestand. Es sah nicht so aus, als könnte es auch nur einen Meter zurücklegen, ohne von vier Männern angeschoben zu werden.
»Glaubst du im Ernst, dass sich diese alte Kiste mehr als hundert Stunden in der Luft halten kann?«, fragte sie skeptisch. »Glaubst du, dass sie dem Wind in den Bergen und den Regenfällen im Dschungel trotzen wird? Meinst du, ich hätte Lust, die ganze Zeit hier auf dich zu warten und zu zittern, dass die Kiste durchhält?«
»Dazu ist sie schließlich konstruiert worden.«
»Nein!«, widersprach sie erregt. »Diese Maschine war für den ruhigen Himmel über Europa gedacht. Sie braucht regelmäßige Inspektionen in eigens dafür vorgesehenen Werkstätten, in denen man über Originalersatzteile verfügt. Oder etwa nicht?«
Da sie keine Antwort auf ihre Frage erhielt, trat sie näher und legte die Hand auf das Gitter des Kühlers, der auf einer Holzbank lag.
»Was willst du machen, wenn der Motor über der Gran Sabana seinen Geist aufgibt? Wirst du warten, bis man dir einen neuen aus London schickt? Oder noch schnell versuchen, auf diesem verdammten Tafelberg zu landen, obwohl du weißt, dass ihr da nie wieder heil herunterkommt?«
»Bisher bin ich mit solchen Problemen immer noch selbst fertig geworden«, erwiderte Jimmie nur. »Schließlich ist das mein Beruf.«
Virginia hatte in den letzten beiden Wochen mindestens sechs Kilo verloren, und das hieß einiges, denn sie war entsetzlich dünn. Nun setzte sie sich auf die Bank neben den Kühler und schüttelte resigniert den Kopf.
»Du täuschst dich! Dein Beruf besteht darin, so viele Bruchlandungen hinzulegen, bis du dir endlich das Genick gebrochen hast. Du bist ein Selbstmörder. In Wirklichkeit suchst du den Tod und verachtest das Leben.« Sie zeigte vorwurfsvoll auf Curry, der mit gesenktem Kopf dabei war, eine Radachse einzuschmieren. »Und jetzt willst du auch noch diesen Idioten mit in den Tod ziehen, statt dass er sich endlich aufrafft, sich eine vernünftige Frau sucht und eine richtige Familie gründet!«
Читать дальше