Lassen Sie sich daher versichern, dass der Grund meiner Verletzung recht prosaisch war. Wir haben in diesem Land ein Phänomen, das Ihnen angesichts des Überflusses, der Ihr Land kennzeichnet, zweifellos unbekannt sein wird. Hier – zumal im Winter, wenn die Reservoire der großen Staudämme fast trocken sind – wird der Strom knapp, was sich in ständigen Ausfällen zeigt. Wir nennen das Lastabwurf, und wir haben immer einen ordentlichen Vorrat an Kerzen zu Hause, damit unser Leben dadurch nicht übermäßig durcheinandergebracht wird. Als Kind hatte ich einmal während eines solchen Lastabwurfs nach so einer Kerze gegriffen, sie umgestoßen und mich mit geschmolzenem Wachs übergossen. In Amerika wäre dies aller Wahrscheinlichkeit nach der Beginn eines langwierigen Prozesses gegen den Hersteller gewesen, weil er Kerzenwachs mit einem solch hohen und gefährlichen Schmelzpunkt verarbeitete; hier war die Folge nur ein Abend voller Tränen und die recht schwache, wenn auch seltsam geradlinige Narbe, die Sie jetzt noch sehen.
Aha, jetzt schalten sie die Zierlichter an, die sich über den Markt spannen! Ein wenig knallig? Ja, Sie haben recht; ich hätte sie auch etwas weniger bunt gemacht. Aber sehen Sie nur das Lächeln auf den emporgereckten Gesichtern um uns herum. Es ist doch erstaunlich, wie theatralisch künstliches Licht sein kann, wenn das Sonnenlicht allmählich verblasst, wie es uns emotional berühren kann, selbst jetzt noch, zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, und in Städten, die so groß und hell wie diese hier sind. Denken Sie nur an die ausdrucksvolle Schönheit des Empire State Building, wenn es am St. Patrick’s Day grün illuminiert wird oder hellblau am Abend von Frank Sinatras Tod. New York bei Nacht ist sicher eine der größten Sehenswürdigkeiten der Welt.
Ich erinnere mich noch an meine ersten nächtlichen Streifzüge durch Manhattan, so oft mit Erica als Guide. Bald nach unserer Rückkehr aus Griechenland lud sie mich zu sich zum Abendessen ein; ich überlegte den ganzen Nachmittag, was ich anziehen sollte. Ich wusste, dass ihre Familie reich war, und ich wollte das tragen, was auch sie meiner Vorstellung nach trugen: etwas Elegantes, aber gleichzeitig Legeres. Mein Anzug schien mir zu formal; mein Blazer wäre besser gewesen, aber der war schon mehrere Jahre alt, und ich fand ihn ein wenig abgewetzt. Schließlich machte ich mir die ethnische Ausnahmeregel zunutze, die für jeden gesellschaftlichen Kodex gilt, und trug eine gestärkte weiße Kurta aus fein gearbeiteter Baumwolle über einer Jeans.
Es zeugte für die Aufgeschlossenheit und – wieder dieses allzu häufig gebrauchte Wort – das Kosmopolitische New Yorks zu jener Zeit, dass ich mich in diesem Aufzug absolut wohl in der U-Bahn fühlte. Überhaupt schien mich, abgesehen von einem schwulen Herrn, der mir höflich ein einladendes Lächeln zuwarf, niemand weiter zur Kenntnis zu nehmen. Ich gelangte von der Linie sechs auf die 72nd Street, mitten im Herzen der Upper East Side. Diese Gegend mit ihren reizenden Bistros, den exklusiven Geschäften und attraktiven Frauen in kurzen Röcken, die winzige Hunde ausführten, war mir verblüffend vertraut, obwohl ich noch nie dort gewesen war; später wurde mir klar, dass mir das so vorkam, weil viele Filme dort spielten.
Ericas Familie wohnte in einem eindrucksvollen Gebäude mit einer blauer Markise und einem älteren Doorman, der eine kühle, missbilligende Miene aufsetzte, die auch gut zu einem Torwächter vor einer der größeren Villen in Lahore gepasst hätte, wenn ich dort in einem kleinen, rostigen Auto vorgefahren wäre. Natürlich reagierte ich mit einem ebenso kalten und recht herrischen Ton – sorgfältig austariert, um ihm zu übermitteln, dass ich gekränkt war, es aber unter meiner Würde fand, es ihm zu sagen –, als ich ihm den Zweck meines Kommens nannte. Das hatte die erwünschte Wirkung; er telefonierte sofort, um zu erfragen, ob ich durchgelassen werden sollte, und geleitete mich – mit dem Bescheid, dass alles seine Richtigkeit habe – persönlich zum Fahrstuhl. Er wies mich an, die Taste fürs Penthouse zu drücken, ein Begriff, der für mich mit Luxus und – ja, ich gestehe es – auch mit Pornografie verbunden war. Daher traf ich in einem Zustand gesteigerter Erwartungen an Ericas Wohnungstür ein, die sich öffnete, noch bevor ich Gelegenheit hatte zu klopfen.
Erica empfing mich mit einem Lächeln; ihre gebräunte Haut leuchtete vor Gesundheit. Ich hatte vergessen, wie umwerfend sie aussah, und als wir, wegen des schmalen Eingangs, so dicht beieinanderstanden, musste ich den Blick senken. »Wow«, sagte sie und strich mit den Fingerspitzen über die Stickereien auf meiner Kurta. »Du siehst toll aus.« Ich erwiderte, dass auch sie toll aussehe, was stimmte, obwohl sie ein kurzes Mighty-Mouse-T-Shirt trug und sich allem Anschein nach nicht ganz so sehr wie ich mit Fragen der Kleiderwahl beschäftigt hatte. Sie sagte, sie wolle mir etwas zeigen, und ich folgte ihr in ihr Zimmer. Es war ungefähr doppelt so groß wie mein Studio und enthielt Kartons mit Uni-Büchern, einen Schreibtisch mit einem Computer und einem Laserdrucker, ein riesiges Bett, auf dem Kleider herumlagen, und einen Sandsack, der an einer Kette von der Decke herabhing; kurz, es wirkte bewohnt, wie ein Zimmer, das man schon sein ganzes Leben hatte.
Mich beschlich ein eigenartiges Gefühl; ich fühlte mich zu Hause. Das kam vielleicht daher, dass ich davor in einer Phase des Übergangs gelebt hatte – von einem Zimmer im Wohnheim zum andern gezogen war – und mich nach dem beständigen Leben meiner Vergangenheit sehnte; vielleicht auch, weil ich meine Familie und die Annehmlichkeiten eines Familiensitzes vermisste, wo Generationen zusammenblieben, statt jeder für sich in einem atomisierten Zustand altersbedingter Trennung; vielleicht auch, weil ein geräumiges Zimmer in einer vornehmen Wohnung an der Upper East Side nach amerikanischen Begriffen die sozio-ökonomische Entsprechung eines geräumigen Zimmers in einem vornehmen Haus in Gulberg war, wie das, in dem ich aufgewachsen war. Was auch immer, ich musste lächeln, worauf Erica ihrerseits lächelte und ein schmales braunes Päckchen hochhielt.
»Es ist fertig«, sagte sie feierlich. Ich wartete darauf, dass sie mehr sagte, und als nichts kam, fragte ich: »Nämlich?« »Mein Manuskript«, sagte sie. »Morgen schicke ich es einem Agenten.« Ich nahm es ehrfürchtig und hielt es auf beiden flachen Händen. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich und fügte, als ich merkte, dass es ziemlich leicht war, hinzu: »Ist das das ganze?« Sie nickte. »Es ist eher eine Novelle als ein Roman«, sagte sie. »Es lässt Raum für das Echo der Gedanken.« Ich drehte es um und betrachtete die Beschaffenheit des Päckchens: das Klebeband, mit dem es versiegelt war, die Delle in einer Ecke. »Bist du aufgeregt?«, fragte ich sie. »Weniger aufgeregt als verunsichert«, sagte sie. »Es ist, als wäre ich eine Auster. Ich hatte lange so ein spitzes Körnchen in mir, und ich habe versucht, es angenehmer zu machen, also habe ich es ganz allmählich in eine Perle verwandelt. Aber jetzt wird sie mir entnommen, und dabei merke ich, dass sie eine Lücke hinterlässt, weißt du, eine Delle in meinem Bauch, wo sie mal gesessen hat. Und deshalb möchte ich irgendwie noch ein bisschen länger daran festhalten.« »Warum tust du’s dann nicht?«, fragte ich und gab es ihr zurück. »Das habe ich schon«, sagte sie und lächelte wieder. »Es hat schon in diesem Umschlag gelegen, als wir in Griechenland waren.«
Ich fühlte mich geehrt und freute mich, dass sie mir das so anvertraute. Ich schaute ihr in die Augen, und zum ersten Mal fiel mir auf, dass dahinter etwas gebrochen war, wie ein feiner Riss in einem Diamanten, der erst sichtbar wird, wenn man ihn durch ein Vergrößerungsglas sieht, normalerweise aber von der Leuchtkraft des Steins überdeckt wird. Ich wollte wissen, was es war, was sie veranlasst hatte, die Perle zu schaffen, von der sie gesprochen hatte. Doch ich dachte, es sei anmaßend, sie danach zu fragen; bei derlei Dingen weiß jemand ganz genau, wann und wem gegenüber er etwas preisgeben will. Also versuchte ich, meinen Wunsch, sie zu verstehen, allein durch meine Miene auszudrücken, und sagte nichts weiter.
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