Er erwachte mit juckendem Ständer, neben sich, unter der Decke, Caroline.
Seine Nachttischlampe brannte noch, sonst war das Zimmer dunkel. Caroline lag da wie in einem Sarkophag, der Rücken flach auf der Matratze und ein Kissen unter den Knien. Durch die Fliegengitter vor den Schlafzimmerfenstern drang die kühle, feuchte Luft eines müde gewordenen Sommers. Kein Wind regte sich in den Blättern der Platane, deren unterste Zweige vor dem Fenster hingen.
Auf Carolines Nachttisch lag eine gebundene Ausgabe von Neutrale Haltung: Wie Sie Ihrem Kind IHRE Jugend ersparen (Dr. Garen Tamkin, 1998).
Sie schien zu schlafen. Ihr langer Arm, dank dreimal wöchentlichen Schwimmens im Cricket Club stramm wie eh und je, ruhte an ihrer Seite. Gary betrachtete ihre kleine Nase, ihren vollen roten Mund, den blonden Flaum und den matten Schweißfilm über ihrer Oberlippe, den spitz zulaufenden Streifen entblößter heller Haut zwischen dem Saum ihres T-Shirts und dem Gummizug ihrer alten kurzen Swarthmore-College-Turnhose. Die ihm zugewandte Brust drückte von innen gegen das T-Shirt, die Kontur der karmesinroten Brustwarze zeichnete sich schwach unter dem gedehnten Stoff ab…
Als er die Hand ausstreckte und ihr übers Haar strich, zuckte ihr ganzer Körper zusammen, als wäre seine Hand eine Defibrillator-Elektrode.
«Was ist denn los?», sagte er.
«Mein Rücken bringt mich um.»
«Vor einer Stunde hast du noch gelacht und dich pudelwohl gefühlt. Und jetzt tut er wieder weh?»
«Die Wirkung des Motrins lässt nach.»
«Die wundersame Wiederkehr der Schmerzen.»
«Du hast noch kein einziges nettes Wort zu mir gesagt, seit mir der Rücken wehtut.»
«Weil du mich anlügst, anstatt zuzugeben, wieso er dir wehtut», sagte Gary.
«Mein Gott. Schon wieder?»
«Zwei Stunden Fußball und Rumgehampel im Regen sind nicht das Problem. Schuld ist das Telefon.»
«Ja», sagte Caroline. «Weil es deiner Mutter um die zehn Cent Leid tut, die es kostet, eine Nachricht auf Band zu sprechen. Sie muss es dreimal klingeln lassen und wieder aufhängen, dreimal klingeln lassen und wieder aufhängen — »
«Dein eigenes Verhalten spielt also gar keine Rolle», sagte Gary. «Nein, meine Mutter ist schuld! Sie ist auf ihrem Besen herbeigeflogen und hat dir in den Rücken getreten, weil sie dir wehtun will!»
«Jedenfalls bin ich fix und fertig mit den Nerven, nachdem das den ganzen Nachmittag so ging mit diesem ewigen Geklingel.»
«Caroline, ich hab dich humpeln sehen, bevor du reingelaufen bist! Ich hab dein Gesicht gesehen. Erzähl mir nicht, du hättest da noch keine Schmerzen gehabt.»
Sie schüttelte den Kopf. «Weißt du, was du bist?»
«Und dann hast du auch noch gelauscht!»
«Weißt du, was du bist?»
«Du lauschst am einzigen freien Telefon im Haus und hast die Frechheit, mir zu erzählen — »
«Gary, du bist depressiv. Ist dir das klar?»
Er lachte. «Ich glaube kaum.»
«Du bist schwermütig und misstrauisch und zwanghaft. Du läufst mit düsterer Miene herum. Du schläfst schlecht. Du scheinst an nichts mehr Freude zu haben.»
«Du lenkst ab», sagte er. «Meine Mutter hat angerufen, weil sie eine völlig vernünftige Frage bezüglich Weihnachten hatte.»
«Vernünftig?» Jetzt lachte Caroline. «Gary, sie ist übergeschnappt, was Weihnachten angeht. Sie ist komplett wahnsinnig.»
«Ach komm, Caroline. Wirklich.»
«Ich meine das ernst!»
«Wirklich. Caroline. Sie werden bald ihr Haus verkaufen, und sie möchten, dass wir alle noch einmal kommen, bevor sie sterben, Caroline, bevor meine Eltern sterben — »
«In dem Punkt waren wir uns doch immer einig. Wir waren uns einig, dass fünf Menschen, die sehr viel zu tun haben, sich nicht zur Hauptreisezeit ins Flugzeug setzen müssen, nur damit zwei Menschen, die nichts mehr zu tun haben, nicht hierher zu kommen brauchen. Und ich habe mich immer gefreut, sie hier — »
«Von wegen.»
«Aber dann ändern sich auf einmal die Regeln!»
«Du hast dich nie gefreut, wenn sie zu Besuch waren. Caroline. Sie sind schon so weit, dass sie nicht mal mehr länger als achtundvierzig Stunden bei uns bleiben wollen.»
«Und das ist meine Schuld?» Sie gestikulierte und grimassierte, ein wenig unheimlich, Richtung Zimmerdecke. «Du begreifst offenbar nicht, Gary, dass wir eine emotional gesunde Familie sind. Ich bin eine liebevolle, leidenschaftliche Mutter. Ich habe drei intelligente, kreative und emotional gesunde Kinder. Wenn du meinst, dass es in diesem Haus ein Problem gibt, solltest du dir lieber mal an die eigene Nase fassen.»
«Ich mache einen vernünftigen Vorschlag», sagte Gary, «und du nennst mich ‹depressiv›.»
«Dir ist dieser Gedanke also noch nie gekommen?»
«Sobald ich von Weihnachten spreche, bin ich ‹depressiv›.»
«Nein, im Ernst, willst du mir weismachen, dir ist in den letzten sechs Monaten noch nie in den Sinn gekommen, dass du krank sein könntest?»
«Es ist extrem feindselig, Caroline, einen anderen als verrückt zu bezeichnen.»
«Nicht, wenn dieser andere möglicherweise ernsthaft krank ist.»
«Ich schlage vor, wir fliegen nach St. Jude», sagte er. «Wenn du nicht wie ein erwachsener Mensch mit mir darüber reden willst, entscheide ich eben selbst.»
«Ach ja?» Caroline machte ein verächtliches Geräusch. «Kann sein, dass Jonah mit dir kommt. Aber versuch mal, Aaron und Caleb ins Flugzeug zu kriegen. Frag sie einfach mal, wo sie Weihnachten lieber sind.»
Frag sie einfach mal, auf wessen Seite sie sind.
«Ich dachte eigentlich, wir wären eine Familie», sagte Gary, «und würden Dinge gemeinsam unternehmen.»
«Du bist doch derjenige, der hier im Alleingang entscheidet.»
«Sag mir, dass das kein Problem ist, an dem unsere Ehe kaputtgeht.»
«Du bist derjenige, der sich verändert hat.»
«Nein, Caroline, also nein, das ist ja lächerlich. Es gibt gute Gründe, dieses Jahr eine einmalige Ausnahme zu machen.»
«Du bist depressiv», sagte sie, «und ich will dich zurückhaben. Ich habe es satt, mit einem deprimierten alten Mann zusammenzuleben.»
Gary seinerseits wollte die Caroline zurückhaben, die sich noch vor wenigen Nächten, als es draußen gewaltig donnerte, im Bett an ihn geklammert hatte. Die Caroline, die auf ihn zugehüpft kam, wenn er den Raum betrat. Die Halbwaise, deren sehnlichster Wunsch es war, auf seiner Seite zu sein.
Aber ihm hatte auch immer gefallen, wie stark sie war, wie anders als alle Lamberts, wie bar jeden Mitgefühls für seine Familie. Über die Jahre hatte er verschiedene ihrer Bemerkungen zu einer Art persönlichem Dekalog zusammengestellt, den Carolinischen Zehn Geboten, aus denen er insgeheim Kraft und Hoffnung schöpfte:
Du bist kein bisschen wie dein Vater.
Du brauchst dich nicht dafür zu entschuldigen, dass du dir einen BMW kaufst.
Dein Dad missbraucht die Gefühle deiner Mom.
Ich liebe den Geschmack deines Samens.
Arbeit war die Droge, die das Leben deines Vaters zerstört hat.
Komm, wir kaufen beides!
Deine Familie hat ein krankhaftes Verhältnis zum Essen.
Du bist ein unglaublich gut aussehender Mann.
Denise ist neidisch auf das, was du hast.
Zu leiden bringt überhaupt nichts.
Viele Jahre lang war das sein Credo gewesen — hatte er sich für jeden Ausspruch tief in Carolines Schuld gefühlt — , und jetzt fragte er sich, wie viel davon er für bare Münze nehmen konnte. Vielleicht gar nichts.
«Ich rufe morgen im Reisebüro an», sagte er.
«Und ich rate dir», erwiderte Caroline prompt, «ruf stattdessen lieber Dr. Pierce an. Du brauchst jemanden, mit dem du reden kannst.»
«Ich brauche jemanden, der die Wahrheit sagt.»
«Du willst die Wahrheit hören? Du willst, dass ich dir sage, warum ich nicht mitkomme?» Caroline setzte sich auf und beugte sich in einem merkwürdigen, vom Rückenschmerz diktierten Winkel vor. «Willst du das wirklich wissen?»
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