«Warum nicht gleich jetzt, ehe du's vergisst.»
Grummelnd und seufzend fügte sich Enid seinem Wunsch.
Gary studierte den Scheck. «Warum ist er auf den 26. Dezember datiert?»
«Weil du ihn frühestens am 26. in Philadelphia einlösen kannst.»
Ihr Geplänkel setzte sich auch beim Mittagessen fort. Gary trank langsam ein Bier und trank langsam ein zweites und kostete genüsslich die Qualen aus, die er Enid bereitete, indem er sich zum dritten und vierten Mal bitten ließ, doch endlich mit dem Duschvorhaben anzufangen. Als er schließlich vom Tisch aufstand, kam ihm der Gedanke, dass sein Impuls, Enids Leben in die Hand zu nehmen, die logische Reaktion darauf war, dass sie ihrerseits nicht aufhören wollte, das seine in die Hand zu nehmen.
Der Haltegriff war ein vierzig Zentimeter langes, beige emailliertes Metallrohr mit geflanschten Ellbogen an beiden Enden. Die stummeligen Schrauben, die in der Packung lagen, hätten vielleicht gereicht, um den Griff an Sperrholz zu befestigen, aber bei Keramikfliesen taugten sie nichts. Um die Stange anzubringen, würde er fünfzehn Zentimeter lange Bolzen durch die Wand in den kleinen Schrank hinter der Dusche bohren müssen.
Unten in Alfreds Werkstatt fand er zwar Aufsätze für die elektrische Bohrmaschine, doch die Zigarrenkisten, die er als Füllhörner nützlicher Eisenwaren in Erinnerung hatte, schienen hauptsächlich verrostete, verwaiste Schrauben und Schließbleche und Spülkastenteile zu enthalten. Mit Sicherheit keine fünfzehn Zentimeter langen Bolzen.
Als er, mit seiner Ich-Blödmann-Grimasse, das Haus verließ, um zum Eisenwarengeschäft zu fahren, fiel sein Blick auf Enid, die am Esszimmerfenster stand und durch die hauchdünne Gardine spähte.
«Mutter», sagte er. «Freu dich bloß nicht zu früh auf Chip.»
«Ich dachte, ich hätte eine Wagentür gehört.»
Schön, mach nur weiter so, dachte Gary auf dem Weg zum Auto, fixier dich auf die, die nicht da sind, und setz alle anderen unter Druck.
Auf der Straße traf er Denise, die, mit Lebensmitteln beladen, aus dem Supermarkt zurückkam. «Ich hoffe, du lässt das alles Mom bezahlen», sagte er.
Seine Schwester lachte ihm ins Gesicht. «Was kümmert dich das?»
«Sie glaubt, sie kann sich alles erlauben. Das macht mich rasend.»
«Dann sei eben doppelt wachsam», sagte Denise und marschierte zum Haus.
Warum lief er eigentlich die ganze Zeit mit einem schlechten Gewissen herum? Er hatte nie versprochen, Jonah mitzubringen, und dafür, dass er den anderen dank seiner Axon-Investition gegenwärtig um $ 58.000 voraus war, hatte er sich schließlich schwer ins Zeug gelegt und war ein hohes Risiko eingegangen, und Bea Meisner hatte ihn beschworen, Enid das süchtig machende Medikament nicht zu geben; warum also lief er mit einem schlechten Gewissen herum?
Beim Fahren stellte er sich vor, wie die Nadel seines Schädeldruckmessers im Uhrzeigersinn vorankroch. Er bereute, Enid Hilfe angeboten zu haben. So kurz, wie sein Aufenthalt war, grenzte es an Idiotie, den Nachmittag mit einer Arbeit zu verbringen, für die sie einen Handwerker hätte ins Haus holen können.
Im Eisenwarengeschäft stand er hinter den fettesten und langsamsten Menschen der mittleren Staaten an der Kasse an. Sie waren hier, um Marshmallow-Weihnachtsmänner, Lamettapackungen, Stabjalousien, Föhne für acht Dollar und Topflappen mit Weihnachtsmotiv zu kaufen. Mit ihren Bratwurstfingern gruben sie in ihren winzigen Portemonnaies nach passendem Wechselgeld. Weiße Cartoon-Dampfwölkchen schossen Gary aus den Ohren. All die schönen Dinge, die er jetzt tun könnte, anstatt eine halbe Stunde Schlange zu stehen, um sechs Fünfzehn-Zentimeter-Bolzen zu kaufen, nahmen in seiner Phantasie verführerische Gestalt an. Er könnte sich in der Sammlerecke des kleinen Lädchens im Verkehrsmuseum umschauen oder die alten Brücken- und Gleiszeichnungen seines Vaters aus dessen ersten Jahren bei der Midland Pacific sortieren oder den Geräteschuppen unter der Veranda nach seiner lang vermissten Modelleisenbahn, Größe O, samt Zubehör durchforsten. Seit seine «Depression» verflogen war, hatte er mit dem Sammeln und Rahmen von Eisenbahnmemorabilien begonnen, seine neue Leidenschaft, hobbyähnlich in ihrer Intensität, und er hätte den ganzen Tag — die ganze Woche! — glücklich damit zubringen können, ihr zu frönen…
Zurück zu Hause, sah er, als er den Weg hinaufeilte, dass sich die hauchdünnen Gardinen ein wenig öffneten: Seine Mutter spähte wieder hinaus. Drinnen dampfte die Luft, erfüllt vom Duft der Speisen, die Denise backte, dünstete und briet. Gary gab Enid den Kassenzettel für die Bolzen, in dem sie das Symbol der Feindseligkeit erkannte, das er war.
«Kannst du dir etwa keine vier Dollar sechsundneunzig leisten?»
«Mutter», sagte er. «Ich erledige die Arbeit, um die du mich gebeten hast. Aber es ist nicht mein Bad. Es ist nicht mein Haltegriff.»
«Ich gebe dir das Geld später.» «Dann vergisst du's vielleicht.» «Gary, ich gebe dir das Geld später.»
Denise, mit Schürze, verfolgte den Wortwechsel von der Küchentür aus mit spöttischem Blick.
Als Gary zum zweiten Mal an diesem Tag in den Keller kam, saß Alfred schnarchend im großen blauen Sessel. Gary ging in die Werkstatt, da entdeckte er etwas, das ihn beinahe aus dem Gleis warf. Eine Schrotflinte in einer Segeltuchhülle lehnte am Labortisch. Er erinnerte sich nicht, sie vorher dort gesehen zu haben. War es möglich, dass er sie nicht bemerkt hatte? Eigentlich gehörte die Schrotflinte in den Geräteschuppen. Dass sie nun woanders war, machte Gary wahrlich zu schaffen. Soll ich zulassen, dass er sich erschießt?
Die Frage stand so klar in seinem Kopf, dass er sie um ein Haar laut ausgesprochen hätte. Und er überlegte. Um Enids Gesundheit willen einzugreifen und ihre Suchtmittel zu beschlagnahmen war eine Sache; in Enid gab es Leben und Hoffnung und Freude, die es zu bewahren galt. Der alte Mann dagegen hatte abgewirtschaftet.
Andererseits war Gary nicht darauf versessen, irgendwann einen Schuss zu hören, nach unten zu gehen und in ein Blutmeer hineinzuwaten. Genauso wenig wollte er, dass seiner Mutter das widerfuhr.
Und dennoch, so fürchterlich der Schlamassel auch wäre — die Lebensqualität seiner Mutter würde daraufhin einen Quantensprung nach oben machen.
Gary öffnete die Schachtel Patronen, die auf dem Tisch lag, und sah, dass keine fehlte. Er wünschte, jemand anders, nicht er, hätte bemerkt, dass Alfred sich das Gewehr aus dem Schuppen geholt hatte. Doch seine Entscheidung, als sie denn gefallen war, stand so klar in seinem Kopf, dass er sie in der Tat laut aussprach. In die staubige, harnsaure, dumpfe Stille des Labors hinein sagte er: «Wenn es das ist, was du willst, bitte sehr. Ich halte dich nicht davon ab.»
Bevor er Löcher in die Wand bohren konnte, musste er die Regale des kleinen Badezimmerschranks leer räumen. Das allein war eine Aufgabe von beträchtlichem Umfang. In einem Schuhkarton hatte Enid jedes einzelne Wattebällchen aufgehoben, das sie je aus einer Flasche Aspirin oder verschreibungspflichtiger Medizin herausgenommen hatte. Da waren fünfhundert, vielleicht tausend Wattebällchen. Und versteinerte, halb ausgedrückte Salbentuben. Und Plastikkaraffen und Plastikbesteck (in noch schlimmeren Farben als Beige, falls das überhaupt möglich war) von Enids drei Krankenhausaufenthalten, einer Fußoperation, einer Knieoperation und einer Venenentzündung. Und niedliche Fläschchen essigsaure Tonerde und Zinksulfat-Tinktur, die irgendwann in den sechziger Jahren ausgetrocknet waren. Und eine Papiertüte, die Gary, um seiner Fassung willen, rasch ganz nach hinten auf eines der oberen Regale warf, weil sich anscheinend uralte Monatsbinden und Monatsbindenhalter darin befanden.
Das Tageslicht schwand bereits, als er den Schrank ausgeräumt hatte und beginnen konnte, die sechs Löcher zu bohren. Jetzt erst stellte er fest, dass die alten Bohraufsätze stumpf wie Niete waren. Er lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Bohrmaschine, die Spitze des Aufsatzes wurde bläulich schwarz und verlor ihren Biss, und der alte Bohrer begann zu qualmen. Schweiß rann Gary über Gesicht und Brust.
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