Jetzt, im Schloss von Blois, bot sich ihm diese Gelegenheit erneut, und Heinrich beschloss, seinen Fehler wiedergutzumachen. Am 23. Dezember lud er den Herzog von Guise zu einer Unterredung in seine Privatgemächer ein. Trotz der Warnungen seiner Berater folgte Guise der Einladung. Als er die Gemächer neben Heinrichs Schlafzimmer betrat, sprangen mehrere Leibgardisten des Königs aus ihrem Versteck hervor, verschlossen hinter ihm die Tür und erdolchten ihn. Zum Entsetzen selbst seiner Anhänger war der König erneut von einem Extrem ins andere gefallen und hatte den Weg des klugen Mittelmaßes verlassen.
Montaigne war zwar nach Blois gekommen, um sich dem Gefolge des Königs anzuschließen, aber nichts deutet darauf hin, dass er in das Mordkomplott eingeweiht war. In den Tagen vor dem Attentat hatte er sich mit den alten Freunden Jacques-Auguste de Thou und Étienne Pasquier getroffen, der die lästige Angewohnheit hatte, Montaigne in seine Gemächer zu entführen und ihm alle stilistischen Fehler der neuesten Ausgabe der Essais vor Augen zu führen. Montaigne hörte ihm höflich zu, ignorierte aber seine Ratschläge; so hatte er es schon gegenüber den Inquisitionsbeamten gemacht.
Pasquier, emotional unausgeglichener als Montaigne, verfiel in eine schwere Depression, als er von der Ermordung des Herzogs von Guise hörte. «O entsetzliches Schauspiel!», schrieb er an einen Freund. «Ich trage schon lange eine melancholische Grundstimmung in mir, die ich jetzt in deinen Schoß erbrechen muss. Ich fürchte, ich glaube, dass ich jetzt das Ende unserer Republik mitansehen muss […] der König wird entweder seine Krone verlieren oder erleben, wie sein Reich auf den Kopf gestellt wird.» Montaigne neigte nicht zu so dramatischen Worten, aber auch er muss entsetzt gewesen sein. Dieser kaltblütige Mord zur falschen Zeit weckte ernste Zweifel an der moralischen Integrität des Königs, von dem sich die politiques doch erhofften, er werde dem Land endlich Stabilität bringen.
Heinrich III. hatte offenbar geglaubt, ein klarer Schnitt würde ihn aller seiner Sorgen entledigen, ähnlich wie Karl IX. im Vorfeld der Massaker der Bartholomäusnacht. Doch der Tod des Herzogs führte zu einer weiteren Radikalisierung der Ligisten, und ein neues revolutionäres Organ in Paris, der Rat der Vierzig, erklärte Heinrich zum Tyrannen. Die Sorbonne fragte beim Papst an, ob es theologisch erlaubt sei, einen König zu töten, der seine Legitimität als Herrscher verloren hat. Der Papst verneinte, doch Prediger und Juristen der Liga argumentierten, dass jeder, der sich von Eifer beseelt und von Gott dazu berufen fühle, diese Tat vollbringen dürfe. «Tyrann» — der Begriff lag zwar schon immer in der Luft, aber im Unterschied zu La Boétie in seiner Schrift Von der freiwilligen Knechtschaft riefen die Prediger nicht zu passivem Widerstand auf. Sie erließen eine Fatwa. Wenn Heinrich der Stellvertreter des Teufels auf Erden war, wie eine Flut von Propagandaschriften behauptete, dann war dessen Ermordung eine heilige Pflicht.
Die 1589 in Paris ausbrechenden Unruhen machten vor nichts und niemandem Halt. Der protestantische Chronist Pierre de L’Estoile stellte fest, die Stadt sei verrückt geworden:
Seinen Nachbarn zu überfallen, seine nächsten Verwandten zu töten, Altäre zu plündern, Kirchen zu entweihen, Frauen und Mädchen zu vergewaltigen und jedermann auszurauben ist heute gängige Praxis eines Ligisten und untrügliches Zeichen eines glühenden Katholiken geworden: mit der Religion und der Messe auf den Lippen, aber Atheismus und Raub im Herzen und Mord und Blut an den Händen.
Überall gab es böse Omen. Selbst Montaignes sonst so bedächtiger Freund Jacques-Auguste de Thou sah eine Schlange mit zwei Köpfen aus einem Holzstoß kriechen und nahm dies als ein schlechtes Zeichen. Als es so schien, als könne es gar nicht mehr schlimmer kommen, starb am 5. Januar 1589 Katharina von Medici. Nach dem Tod seiner Mutter stand Heinrich nun ganz allein da. Nur seine schlecht bezahlten Soldaten und jene politiques , die, ihren Grundsätzen verpflichtet, noch an seiner Seite standen, schützten ihn jetzt noch vor den hochschlagenden Wellen des Hasses.
Wie immer zogen diese politiques auch diesmal den Argwohn auf sich. Da half es auch nichts, dass Montaigne in kühlem, auf Ausgleich bedachtem Ton schrieb, die Liga und die radikalen Hugenotten seien jetzt nahezu ununterscheidbar:
Nehmen wir die ernste Gewissensfrage als Beispiel, ob es dem Untertan erlaubt sei, sich zur Verteidigung seines Glaubens gegen seinen Fürsten mit bewaffneter Hand zu erheben: Erinnert ihr euch, welche Mäuler vergangnes Jahr deren Bejahung zum Eckpfeiler ihrer Partei machten und welche andern ihre Verneinung? Nun hört euch an, von welcher Seite heute die eine, von welcher die andre Haltung lauthals angepriesen und eingeübt wird! Klirren die Waffen für diese Sache hier etwas weniger mörderisch als für jene dort?
Und was die Idee des von Gott gebilligten Tyrannenmordes anginge: Wie könne jemand glauben, dass er durch die Ermordung eines Königs in den Himmel komme? Wie könne er sich «auf dem sichersten Weg zu unsrer Verdammung» Erlösung erhoffen? Irgendwann in dieser Zeit verlor Montaigne auch noch sein letztes bisschen Geschmack an der Politik. Anfang 1589 verließ er Blois. Ende Januar war er wieder auf seinem Landgut und in seiner Bibliothek. Dort war er weiter aktiv und blieb in Verbindung mit Matignon, Generalleutnant und Bürgermeister von Bordeaux in Personalunion. Er scheint jedoch von nun an keine diplomatischen Missionen mehr erfüllt zu haben. Ironischerweise kam es kurz nach seinem Rückzug zu der lang ersehnten Annäherung zwischen Heinrich III. und Heinrich von Navarra. Sie bündelten ihre Kräfte und belagerten im Sommer 1589 die von der Liga beherrschte Hauptstadt.
Dies aber war ein neuer Fehler des Königs. Als sich die Armeen in ihren Lagern außerhalb der Stadttore sammelten, war Heinrich III. in Reichweite der Ligisten von Paris. Der junge Dominikanermönch Jacques Clément fühlte sich von Gott aufgerufen zu handeln. Unter dem Vorwand, dem König eine Botschaft von heimlichen Sympathisanten in der Stadt zu überbringen, wurde er am 1. August zum König vorgelassen, der in diesem Augenblick auf der Toilette saß — der übliche Rahmen für einen Monarchen, Besucher zu empfangen. Clément zückte einen Dolch und stach ihn dem König in den Unterleib, bevor er von Wachen überwältigt und getötet wurde. Heinrich verblutete langsam. Eine seiner letzten Handlungen war die Ernennung Heinrichs von Navarra zum Thronerben — unter der Bedingung, dass er zum katholischen Glauben zurückkehrte.
Die Nachricht vom Tod des Königs wurde in Paris mit Jubel aufgenommen. Papst Sixtus V. lobte die mörderische Tat. Und endlich erklärte sich Heinrich von Navarra bereit, erneut zum Katholizismus zu konvertieren. Anfangs weigerten sich einige Katholiken, ihn anzuerkennen, besonders die Mitglieder des Pariser Parlaments, die den Kardinal von Bourbon als König betrachteten. Aber mit der Zeit gelang es Heinrich, sich durchzusetzen. Er wurde als Heinrich IV. unangefochtener König von Frankreich: der Monarch, der schließlich einen Weg fand, die Bürgerkriege zu beenden und das Land zu einigen. Dies gelang ihm vorrangig durch die Kraft seiner Persönlichkeit. Er war der König, auf den die politiques immer gehofft hatten.
Montaigne, der mit dem Navarrer stets eine freundschaftliche Beziehung gepflegt hatte, fand sich jetzt erneut in einer halboffiziellen Rolle als Berater des nunmehrigen Königs Heinrich IV. — als erstaunlich freimütiger Berater, wie sich bald zeigen sollte. Montaigne schrieb Heinrich IV. einen Brief, in dem er ihm seine Dienste anbot, wie es die Etikette verlangte. Am 30. November 1589 bestellte der König Montaigne nach Tours, dem vorübergehenden Sitz des Hofes. Entweder brauchte der Brief sehr lange, oder Montaigne ließ ihn eine Weile auf seinem Kaminsims liegen, bevor er ihn öffnete, denn sein Antwortschreiben datiert vom 18. Januar 1590. Da war es bereits zu spät, der Aufforderung Folge zu leisten. Montaigne war dem König gegenüber zwar zu treuem Dienst bereit, dennoch aber entschlossen, auf eine Reise zu verzichten, zumal sich seine Gesundheit jetzt zunehmend verschlechterte. Er schrieb dem König, sein Brief sei leider sehr spät eingetroffen. Er wiederholte seine Glückwünsche und fügte hinzu, er freue sich, wenn der König weitere Unterstützung gewinne.
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