Die Ähnlichkeiten könnten auch darauf zurückzuführen sein, dass beide — Montaigne wie Shakespeare — vom Geist der Spätrenaissance mit all ihren Verwirrungen und Unaufgelöstheiten durchdrungen waren. Man bezeichnete sie als die ersten Autoren, die das Lebensgefühl des modernen Menschen dargestellt haben: die Unsicherheit, wo man hingehörte, wer man war und wie man handeln sollte. Dem Shakespeare-Forscher John M. Robertson zufolge ist die gesamte Literatur nach Montaigne und Shakespeare die Ausarbeitung eines Grundthemas: des in sich selbst gespaltenen Bewusstseins.
Man darf diesen Vergleich aber nicht zu weit treiben, schließlich war Shakespeare Dramatiker und kein Essayist. Er konnte seine Widersprüche zwischen verschiedenen Charakteren aufteilen, um sie auf der Bühne aufeinanderprallen zu lassen. Montaigne dagegen musste alle Widersprüche in sich selbst fassen. Montaigne steht auch nicht einsam und alle überragend ganz oben an der Spitze wie Shakespeare in England. Er hatte weniger Neider, und es gab keine Bilderstürmer, die ihn vom Sockel stürzen wollten, indem sie behaupteten, er habe seine Essais nicht selbst geschrieben.
Fast keine. Zu den wenigen Ausnahmen zählt einer der großen «Anti-Stratfordianer» oder Shakespeare-Zweifler des 19. Jahrhunderts: Ignatius Donnelly. Seinem umfangreichen Werk, in dem er den Nachweis zu führen suchte, dass Francis Bacon der Autor von Shakespeares Dramen war, fügte Donnelly ein Kapitel hinzu, das Belege dafür anführte, dass Bacon zusätzlich auch noch der Verfasser von Montaignes Essais , Robert Burtons Anatomy of Melancholy (Anatomie der Schwermut) sowie Christopher Marlowes Werk sei. Hinweise darauf findet er in den Essais überall verstreut, etwa wenn Montaigne schreibt: «Wer einem Jungen seine eigensinnige und hartnäckige Vorliebe für Schwarzbrot, Speck [ bacon ] und Knoblauch austreibt, treibt ihm damit die Vernaschtheit aus.» Der Name Francis taucht mehrfach in den Essais auf, wenn auch zugegebenermaßen in der französischen Form François, womit in der Regel der französische König Franz I. gemeint war. Egal, auch das war ein Hinweis. Um die Sache auf die Spitze zu treiben, führte Donnelly die Entdeckung einer Mrs. Pott an, die ihn auf die häufige Erwähnung von «mountains» (Bergen) oder Montaines in Shakespeares Stücken aufmerksam machte. Wenn Bacon der Verfasser von Shakespeares Dramen war, dann war jeder in ihnen enthaltene Bezug auf Montaigne ein Hinweis dafür, dass er auch der Autor der Essais war. «Kann irgendjemand glauben, das alles sei Zufall?», fragte Donnelly.
Er zeigte sich verblüfft von anderen Passagen der Essais , die für ihn gleichfalls voller Hinweise steckten, aber schwieriger zu deuten seien, insbesondere die Geschichte einer jungen Frau, die sich in ihrer Verzweiflung wild auf die «weiße Brust» trommelt, nachdem ihr geliebter Bruder durch eine verhängnisvolle Kugel getötet worden war. Donnelly streckt die Waffen:
Wer ist die junge Frau? Der Text verrät nicht mehr über sie. Ist es ihre weiße Brust, die ihren Bruder getötet hat? […] Woher kam die Kugel? Von der weißen Brust? Das alles ist Unsinn […]. Und es gibt Hunderte solcher Stellen.
Dass die Essais auf Französisch geschrieben waren, könnte für diese These ein Problem sein — nicht bei Donnelly. Seine Erklärung lautet, Bacon habe ein Buch mit skeptischen, religiös unorthodoxen Ansichten veröffentlichen wollen, es aber in England nicht gewagt, so dass er es schließlich als Übersetzung herausbrachte. Wie es der Zufall will, lebte Francis Bacons Bruder Anthony damals in Paris und kannte Montaigne. Er habe ihn überredet, dem Unternehmen seinen Namen zu leihen, andere hätten Florio überredet, als Übersetzer herzuhalten. Demnach hätte Bacon die Essais geschrieben, Montaigne seinen Namen daruntergesetzt und Florio das Werk übertragen — allerdings aus dem Englischen ins Französische. «Montaigne» wäre damit in Wirklichkeit ein Engländer gewesen, und zwar in einem sehr viel wörtlicheren Sinn, als Lord Halifax oder William Hazlitt es je zu träumen gewagt hätten.
Ein Aspekt der Geschichte hat tatsächlich Hand und Fuß: Anthony Bacon kannte Montaigne und besuchte ihn zweimal, einmal Anfang der 1580er Jahre und dann noch einmal 1590. Er hätte ein Exemplar der Essais leicht seinem Bruder nach England mitbringen können, was bedeutete, dass Francis es (in französischer Sprache) hätte lesen können, bevor er 1597 seine eigenen Essays veröffentlichte. Das wäre eine Erklärung für ein großes Rätsel der Forschung: Wie war es möglich, dass Bacon und Montaigne innerhalb weniger Jahre ein Werk desselben Titels herausbrachten?
Allerdings ist der Titel fast die einzige Gemeinsamkeit. All das, was bei Montaigne typisch englisch klingt, fehlt seinem englischen Pendant vollkommen. Bacon schrieb mit sehr viel mehr intellektueller Stringenz als Montaigne. Er war prägnanter, philosophischer — und sehr viel langweiliger. Wenn er Themen wie das Bücherlesen oder das Reisen in Angriff nahm, erteilte er Anweisungen: Das müsst ihr lesen! oder: Das müsst ihr euch unterwegs anschauen. Wenn ein Thema sich zur Untergliederung eignete, unterteilte er es und kündigte jedes Unterkapitel wortreich an. Das hätte Montaigne seinen Lesern niemals angetan.
Als durch Florio und Bacon das Eis gebrochen war, kamen zahllose englische Bücher mit der Titelbezeichnung «Essays» auf den Markt. Einige waren ganz offenkundig von Florios Montaigne-Übersetzung beeinflusst, andere von Bacon, aber fast alle übernahmen den Schreibstil und die Denkweise Montaignes. Nur sehr wenige englische Essays nach Beginn des 17. Jahrhundert waren philosophisch strenge gedankliche Durchdringungen wichtiger Themen. Die meisten waren unterhaltsame Streifzüge durch alles Mögliche. Ein typisches Beispiel war William Cornwallis, der Florios Übersetzung in einer frühen Manuskriptfassung las und in den Jahren 1600, 1601, 1616 und 1617 Essayes herausgab zu Themen wie «Of Sleepe» (Über den Schlaf), «Of Discontentments» (Über Unzufriedenheiten), «Of Fantastickness» (Über Phantastereien), «Of Alehouses» (Über Wirtshäuser) und «Of the Observation, and Use of Things» (Über die Beobachtung und den Gebrauch von Dingen).
Auch jene Autoren, die ihre Arbeiten nicht als Essays bezeichneten, schrieben oft in einer unverkennbar beiläufigen, persönlichen Art und Weise. Während die französische Literatur zunehmend getragener und formeller wurde, brachte England Querköpfe und Exzentriker wie Robert Burton hervor, der in seiner umfangreichen Abhandlung Anatomie der Schwermut seinen Stil charakterisiert als dahinjagend «wie ein umherstreifender Spaniel», der «jeden Vogel anbellt, der ihm begegnet». Noch exzentrischer war Sir Thomas Browne mit seinen essayistischen Untersuchungen zu Medizin, Parks, Bestattungsarten, imaginären Bibliotheken und vielem mehr — geschrieben in einem so eigenwillig verschlungenen barocken Stil, dass jeder Satz sofort Browne zuzuordnen ist.
Auf dem Höhepunkt dieser hochgradig exzentrischen Phase der Montaigne-Rezeption in England trat ein neuer Übersetzer auf den Plan, der alles ein wenig geraderückte: Charles Cotton, dessen Neuübertragung 1685 und 1686 erschien, nicht lange nachdem die Essais in Frankreich auf den Index gesetzt worden waren. Cotton war genauer als Florio, und seine Übersetzung machte die Essais einer neuen Generation englischer Leser bekannt. Überraschenderweise war der Autor dieser sehr viel zurückhaltenderen Übersetzung von seinem Naturell her weitaus unberechenbarer und dilettantischer als Florio. Cotton selbst betrachtete seine skatologischen burlesken Gedichte als seine bedeutendste Leistung. Er beschrieb sich einmal selbst als einen «nordländischen Trottel» (a Northern clod) , der allabendlich im Pub herumhing und Ale trank, bevor er sich in seine Bibliothek zurückzog, um
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