Wenn die englischen Leser vom Stil der Essais angetan waren, so noch viel mehr von deren Inhalt. Sie schätzten Montaignes Bevorzugung konkreter Details gegenüber der Abstraktion, ebenso sein Misstrauen gegenüber allem Akademischen, sein Plädoyer für Mäßigung und Bequemlichkeit und sein Bedürfnis nach Rückzug, nach einem «Hinterzimmer in seinem Geschäft». Auf der anderen Seite fanden die Engländer genau wie Montaigne Geschmack am Reisen und am Exotismus. Unter der ruhigen Oberfläche seines Konservatismus konnte ein völlig unerwarteter Radikalismus aufbrechen, genau wie bei ihnen. Meistens jedoch war er am glücklichsten, wenn er seiner Katze beim Spielen am Kamin zusehen konnte, genau wie die Engländer.
Hinzu kam seine Philosophie, wenn man sie so nennen kann. Die Engländer waren keine geborenen Philosophen. Sie spekulierten nicht gern über das Sein, die Wahrheit und den Kosmos. Wenn sie ein Buch zur Hand nahmen, wollten sie Anekdoten, merkwürdige Charaktere, geistreiche Tiraden und einen Hauch Phantasie. Wie Virginia Woolf über Sir Thomas Browne sagte, einen der zahllosen englischen Autoren, die in der Art Montaignes schrieben: «Der englische Geist ist von Natur aus geneigt, sich in den lockersten Launen und Stimmungen zu tummeln und darin sein Vergnügen zu finden.» Aus diesem Grund feierte auch William Hazlitt Montaigne mit Worten, die einer unphilosophischen Nation aus der Seele sprachen:
Wenn er zur Feder griff, gebärdete er sich nicht als Philosoph, als kluger Kopf, Redner oder Moralist, sondern er wurde dies alles einfach dadurch, dass er wagte, uns zu erzählen, was immer ihm in aller Schlichtheit und Eindringlichkeit durch den Sinn ging und was er in irgendeiner Form für mitteilenswert hielt.
An einer der seltenen Stellen, wo Montaigne sich selbst als Philosophen bezeichnete, tat er dies nur, um zu sagen, er sei ein «Philosoph aus Zufall, ohne Vorbedacht». Er habe seine Gedanken über seine Lebensführung auf so vielen Seiten ausgebreitet, dass er zu seiner eigenen Überraschung merkte, «dass sich diese rein zufällig mit zahlreichen Betrachtungen und Beispielen der Philosophie im Einklang fanden».
Viel von seinem Erfolg in England war gleichfalls eher einem glücklichen Zufall geschuldet: Die Essais hatten schlicht und einfach das Glück, an den kongenialen englischen Übersetzer John Florio geraten zu sein.
Dass John Florio der Erste war, der den in Montaigne verborgenen Engländer herauszukitzeln verstand, ist umso bemerkenswerter, als er selbst ein multikultureller Wanderer von höchst unenglischer Sensibilität war. Er gilt gewöhnlich als Italiener, obwohl seine Mutter eine Engländerin war und er 1553 in London geboren wurde. Er war also in erster Linie Engländer, allerdings mit einem italienischen Vater, Michele Agnolo Florio, Sprachlehrer und Autor, der viele Jahre zuvor als protestantischer Flüchtling nach England gekommen war. Als die Katholikin Maria Tudor auf den Thron kam, ging die Familie Florio erneut ins Exil und zog kreuz und quer durch Europa, weshalb der junge John mit so vielen Sprachen in Kontakt kam. Als Erwachsener wieder in England, machte er sich als Französisch- und Italienischlehrer einen Namen, er gab dialogisierte Lehrwerke des Italienischen für englische Muttersprachler heraus sowie ein erfolgreiches italienisch-englisches Wörterbuch.
Die Essais übersetzte er auf das Drängen einer reichen Gönnerin, der Gräfin von Bedford. Sie machte ihn auch mit einer ganzen Schar von Freunden und Mitarbeitern bekannt, die ihm bei der Zitatensuche und der Verbreitung des Buches halfen. Florio bedankte sich mit weitschweifigen Widmungen, die manchmal so verschnörkelt waren, dass sich selbst die Adressaten keinen Reim darauf machen konnten. Ein Satz aus seinem Brief an die Gräfin von Bedford liest sich so:
Ihre Vorzüge gleichen Euren Mängeln so sehr, dass ich zu einem so langwierigen Unterfangen auf einem ebenso trefflichen wie weiten Feld angeregt werden würde und die in mir lodernden Geister mich anstacheln würden, wenn mir Eure sanft zügelnde Hand nicht Einhalt geböte (wer hat nie den Wunsch verspürt, über das hinauszugelangen, wofür man ihn hält, statt für etwas gehalten zu werden, was man nicht ist) , oder vielleicht sollte ich durch voreilige Erklärungen Eure unverkennbaren Vorzüge nicht beurteilen, Wenn Euer Wert gewogen werden wird .
Das ist ein typisches Beispiel dafür, wohin es führte, wenn man Florio die Zügel schießen ließ. Wie Montaigne konstruierte auch er immer kompliziertere Gedankengänge wie eine Spinne, die ihre Seide produziert. Aber während Montaigne sich immer weiter vorwärtsbewegt, dreht Florio sich um sich selbst und verdichtet seine Sätze zu immer enger geführten barocken Windungen, bis sich ihr Sinn in einer komplizierten Syntax verflüchtigt. Der wirklich magische Funke entzündet sich nur dann, wenn beide aufeinandertreffen: Montaigne und Florio. Der eine ist so sehr der Erde verbunden, dass er des anderen Höhenflüge zügeln kann, während umgekehrt Florio Montaigne eine elisabethanisch-englische Färbung verleiht sowie jede Menge puren Spaß. Wenn Montaigne schreibt: Nos Allemans, noyez dans le vin (bei Stilett: «Unsre deutschen Soldaten […] sternhagelvoll»), heißt es bei Florio: «Our carowsing tospot German souldiers, when they are most plunged in their cups, and as drunke as Rats» («Unsere zechenden, versoffenen deutschen Soldaten, wenn sie tief in ihre Becher schauen und betrunken sind wie die Ratten»). Wo der moderne englische Übersetzer Donald Frame schlicht schreibt: «Werewolves, goblins, and chimeras» (bei Stilett: «Werwölfe, Kobolde und andere Schimären»), übersetzt Florio: «Larves, Hobgoblins, Robbin-good-fellowes, and other such Bug-beares and Chimeraes»: ein Stück reinster Sommernachtstraum .
Shakespeare und Florio kannten einander, Shakespeare gehörte zu den ersten Lesern der englischen Übersetzung der Essais . Vielleicht hatte er Teile davon schon in der Manuskriptfassung gelesen, also noch bevor die Übersetzung in Druck ging. Spuren Montaignes finden sich nachweislich im Hamlet , der vor dem Erscheinen von Florios Übersetzung entstand. Eine sehr viel später entstandene Passage aus dem Sturm weist so große Ähnlichkeiten mit Florios Übersetzung auf, dass kein Zweifel bestehen kann, dass Shakespeare sie kannte. Gonzalo beschreibt seine Vision einer perfekten Gesellschaft im Naturzustand:
Ich wirkte im gemeinen Wesen alles
Durchs Gegenteil; denn keine Art von Handel
Erlaubt’ ich, keinen Namen eines Amts;
Gelahrtheit sollte man nicht kennen; Reichtum,
Dienst, Armut gäb’s nicht; von Vertrag und Erbschaft,
Verzäunung, Landmark, Feld- und Weinbau nichts;
Auch kein Gebrauch von Korn, Wein, Öl, Metall,
Kein Handwerk: alle Männer müßig, alle.
Diese Passage zeigt auffällige Ähnlichkeiten mit dem, was Montaigne — in Florios Übersetzung — über die Tupinambá sagt:
Es ist ein Volk […], das keine Art von Handel kennt, keine Gelehrtheit, keine Einsicht in Zahlen, keinen Namen eines Amts oder einer Obrigkeit, keine Dienstbarkeiten, keinen Reichtum und keine Armut, keinen Vertrag und keine Erbschaft, keine Güterteilung, keinen Besitz, kein Handwerk, sondern Müßiggang; keine Berücksichtigung anderer Verwandtschaft als der Gemeinschaft, keine Bekleidung, nur Natur, keine Düngung der Felder, keinen Gebrauch von Wein, Korn oder Metall.
Nach der Entdeckung dieser offenkundigen Parallele durch Edward Capell Ende des 18. Jahrhunderts wurde es zu einem Volkssport, auch in anderen Stücken Shakespeares nach Einflüssen Montaignes zu suchen. Am vielversprechendsten ist gewiss der Hamlet , dessen Protagonisten oft reden wie ein Montaigne, der, auf einer Bühne stehend, ein dramatisches Rätsel zu lösen hat. Wenn es bei Montaigne heißt: «Wir sind aber, wie soll ich sagen, in uns selber doppelt», oder wenn er sich selbst in einer nicht enden wollenden Kaskade von Adjektiven als «schamhaft und unverschämt, keusch und geil, schwatzhaft und schweigsam, zupackend und zimperlich, gescheit und dumm, mürrisch und leutselig, verlogen und aufrichtig, gebildet und ungebildet, freigebig und geizig und verschwenderisch» charakterisiert, klingt es wie ein Monolog aus Shakespeares Hamlet . Auch Montaigne meint, dass einer, der zu viel über all die Umstände und Folgen seines Tuns nachgrübelt, gar nicht mehr handeln kann — ein gutes Resümee von Hamlets Dilemma.
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