Im Mai 1588, kurz nach Montaigne, traf auch der Herzog von Guise, nach wie vor der gefährlichste Feind des Königs, in der Hauptstadt ein. Heinrich III. hatte den Herzog aus der Stadt verbannt, sein Erscheinen in Paris forderte also die königliche Autorität heraus. Doch der Herzog wusste, dass er die Rückendeckung der rebellischen Parlamentarier von Paris hatte. Der König hätte auf diese Provokation mit seiner Verhaftung reagieren müssen, aber er unternahm nichts, nicht einmal, als Guise ihn persönlich aufsuchte. Der neue Papst Sixtus V. soll später über diese Begegnung gesagt haben: «Guise war ein leichtsinniger Narr, sich in die Hände eines Königs zu begeben, den er beleidigt hatte; und der König war ein Feigling, dass er ihn unangetastet gehen ließ.» Wieder eine Situation des prekären Gleichgewichts: Die stärkere Partei musste entscheiden, wie weit sie mit ihrer Provokation gehen konnte, die schwächere, ob sie sich beugen oder Widerstand leisten sollte.
Heinrich III. traf drei falsche Entscheidungen. Er unternahm nichts, als es geboten gewesen wäre zu handeln. Um diesen Fehler wiedergutzumachen, überreagierte er. In der Nacht des 11. Mai postierte er überall in der Stadt Soldaten, als rüste er sich zum entscheidenden Kampf, vielleicht sogar zu einem Massaker an den Anhängern des Herzogs von Guise. Wütend und aufgeschreckt strömten die Ligisten auf die Straßen, bereit, sich zu verteidigen. Die nachfolgenden Ereignisse sind als der «Barrikadentag» in die Geschichte eingegangen.
Jetzt beging Heinrich III. seinen dritten Fehler. Er trat in panischer Hast den Rückzug an — eine schwache und doch maßlose Reaktion, die Montaigne angesichts eines gewaltbereiten Mobs für verheerend hielt. Der König bat Guise, seine Anhänger zu beschwichtigen. Guise ritt durch die Straßen, um der Bitte pro forma Folge zu leisten, in Wirklichkeit aber putschte er die Massen weiter auf. Ein Volksaufstand war die Folge. «Ich habe noch nie eine so wütende Orgie des Volkes gesehen», schrieb Montaignes Freund Étienne Pasquier später in einem Brief. Alles sah nach einer zweiten Bartholomäusnacht aus, aber es kamen weniger Menschen ums Leben, und die Unruhen erreichten schnell ihr Ziel. Am Ende des folgenden Tages, so Pasquier, «war es wieder so ruhig, dass man meinen konnte, alles sei nur ein Traum gewesen». Aber es war keiner. Paris erwachte in einer veränderten Welt: Der König war aus der Stadt geflohen, so heimlich, dass es kaum jemand gemerkt hatte. Er war nach Chartres gegangen und hatte Paris dem Herzog von Guise überlassen.
Nach der kampflosen Aufgabe seiner Stadt war Heinrich III. jetzt ein König im Exil. Er hatte praktisch abgedankt, auch wenn ihn seine Anhänger noch als ihren Monarchen betrachteten. Guise verlangte die Anerkennung des Kardinals von Bourbon als Nachfolger des Königs. Heinrich hatte keine andere Wahl, er musste der Forderung nachgeben. Es fehlte nicht an Stimmen, die ihm darlegten, wie es zu diesem Desaster hatte kommen können: Er hatte es versäumt, Guise auszuschalten, ihn also zu verhaften oder zu töten. Montaigne, nach wie vor ein loyaler Monarchist, folgte dem König nach Chartres und später nach Rouen. Das überrascht nicht. Die Alternative wäre gewesen, bei den Ligisten in Paris zu bleiben oder nach Hause zurückzukehren. Im Juli 1588 jedoch verließ er den König, um wieder nach Paris zu gehen. Er war krank, ihn plagten Gicht oder Rheuma mit Schmerzattacken, die ihn zeitweilig ans Bett fesselten.
Er hatte nicht damit gerechnet, behelligt zu werden, plante er doch keinen Umsturz, sondern führte lediglich Gespräche mit seinem Verleger: Der dritte Band der Essais war gerade abgeschlossen. Aber Paris war der falsche Ort für jemanden, der auf der Seite des Königs stand. Eines Nachmittags, Montaigne lag immer noch krank im Bett, drangen Bewaffnete ein und verhafteten ihn auf Befehl der Liga — vielleicht eine Vergeltungsmaßnahme für die Verhaftung eines Ligisten in Rouen auf Befehl Heinrichs III. Das zumindest vermutete Montaigne in seinem «Beuther». Sie setzten ihn auf sein Pferd und brachten ihn in die Bastille.
In den Essais schrieb Montaigne über seinen Horror vor der Gefangenschaft:
Noch bin ich nie im Innern eines Gefängnisses gewesen, und sei es nur zur Besichtigung. Meine Vorstellungskraft macht mir schon den Anblick von außen zuwider. Ich dürste derart nach Freiheit, dass ich, wenn man mir den Zugang zu irgendeinem Winkel Indiens verböte, mein Leben beengt fühlte, und gewiss werde ich, solang ich anderswo freies Land unter freiem Himmel finde, nie an einem Ort dahinkümmern, wo ich mich verkriechen müsste.
In die Bastille geworfen zu werden, noch dazu in seinem schlechten Gesundheitszustand, muss ein Schock gewesen sein. Doch Montaigne hatte Grund zur Zuversicht. Fünf Stunden später wurde er durch Katharina von Medici gerettet. Auch sie war jetzt in Paris und hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, die Krise durch Verhandlungen beizulegen. Sie führte gerade ein Gespräch mit dem Herzog von Guise, als die Nachricht von Montaignes Verhaftung eintraf, und forderte ihn auf, Montaigne auf freien Fuß zu setzen, was Guise widerstrebend tat.
Guises Befehl wurde dem Kommandanten der Bastille überbracht, doch das genügte zunächst nicht. Der Kommandant bestand auf einer Bestätigung durch den prévôt des marchands Michel Marteau, Sieur de La Chapelle, der sein Einverständnis durch den gleichermaßen einflussreichen Nicolas de Neufville, Seigneur de Villeroy, übermittelte. Es bedurfte also letztlich der Intervention von vier einflussreichen Personen, bis Montaigne endlich freigelassen wurde. Die Königinmutter muss ihn gemocht haben, der Herzog von Guise wohl weniger, doch sogar er sah ein, dass Montaigne besondere Rücksichtnahme verdiente.
Montaigne blieb danach nur noch für kurze Zeit in Paris. Zwar ließen die Gelenkschmerzen nach, aber es traten neue Beschwerden auf, wahrscheinlich eine der gefürchteten Nierenkoliken, die ihn fast das Leben gekostet hätte. Sein Freund Pierre de Brach beschrieb die Episode ein paar Jahre später in einem stoisch grundierten Brief an Justus Lipsius:
Als wir vor ein paar Jahren zusammen in Paris waren und die Ärzte sein Leben aufgaben, während er selbst nur noch auf sein Ende hoffte, erlebte ich, als der Tod ihm schon ins Gesicht starrte, wie er ihn mit seiner Verachtung der Todesangst in die Flucht schlug. Was für einen großartigen Beweis führte dieser Mann damals für das Ohr, was für eine großartige, weise Belehrung erteilte er der Seele, was für eine mutige Entschlossenheit demonstrierte er, um die Furchtsamsten zu beruhigen! Ich habe nie einen Mann erlebt, der besser redete und entschlossener war zu tun, was die Philosophen empfohlen hatten, wobei die Schwäche seines Körpers der Stärke seiner Seele keinen Abbruch tat.
Brachs Schilderung suggeriert, dass sich Montaigne seit seinem Reitunfall mit seiner Sterblichkeit abgefunden hatte. Er hatte seither einiges durchgemacht, und seine Nierenkoliken hatten ihn immer wieder dem Tod nahe gebracht. Der Anfall war ein Kampf wie auf einem Schlachtfeld. Der Tod würde sich am Ende zwar als der Stärkere erweisen, aber vorerst hatte Montaigne ihm erfolgreich Widerstand geleistet.
Während seiner Genesung besuchte Montaigne eine Freundin, die er im Jahr zuvor in Paris kennengelernt hatte: Marie de Gournay. Sie war von seinem Werk begeistert und hatte ihn auf das Schloss ihrer Familie in die Picardie eingeladen: für Montaigne eine willkommene Erholungspause. Unterdessen war die neue Ausgabe der Essais erschienen, und er dachte bereits über weitere Ergänzungen nach, in die seine jüngsten Erfahrungen einfließen sollten. Allein oder auch unterstützt von Marie de Gournay und anderen, fing er an, das druckfrische Exemplar mit Zusätzen und Einfügungen zu versehen.
Als Montaigne sich erholt hatte, reiste er im November 1588 nach Blois, wo der König und der Herzog von Guise an einer Versammlung der Generalstände teilnahmen. Das Ziel waren weitere Verhandlungen, doch Heinrich III. hatte anderes im Sinn. Er war ein König ohne Reich, und er war verzweifelt. Seit sechs Monaten lagen ihm seine Berater damit in den Ohren, dass alles anders gekommen wäre, hätte er damals den Herzog von Guise getötet.
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