Was sie alle unerträglich fanden, war nicht in erster Linie der Mangel an persönlichem Mut — schließlich hatte Montaigne eine Woche lang am Sterbebett eines Pestkranken gesessen —, sondern sein Versagen angesichts einer öffentlichen Aufgabe. Montaignes kühles Kalkül und seine schriftlichen Anfragen wurden jetzt von einer Generation missbilligt, deren moralisch strenges Urteil noch dem Geist der Romantik verpflichtet war: man müsse bereit sein, jedes, selbst das sinnloseste Opfer zu bringen.
Grundlegend für diese Beurteilung Montaignes war — wie im 17. Jahrhundert — die Ablehnung seines Skeptizismus. Leser des 19. Jahrhunderts waren in einem Maße irritiert wie nur wenige nach Pascal. Sie störten sich nicht daran, dass Montaigne vermeintliche Tatsachen anzweifelte, lehnten es jedoch ab, das alltägliche Leben aus der Sicht des Skeptikers zu betrachten und sich von allgemein akzeptierten Verhaltensmustern zu distanzieren. Das skeptische epoché — «Ich enthalte mich» — erschien ihnen Grund genug, Montaigne zu misstrauen und ihn des Nihilismus zu verdächtigen, der das Gespenst der neuen Ära war.
Im späten 19. Jahrhundert war Nihilismus ein Synonym für Gottlosigkeit und existentielle Leere. Er stand für Atheismus und für etwas noch viel Schlimmeres: die Preisgabe aller moralischen Werte. Schließlich wurde «Nihilist» zum Synonym für «Terrorist». Nihilisten waren Menschen, die an keinen Gott glaubten, Bomben warfen und die soziale Ordnung zerstören wollten. Sie wurden als revolutionärer Flügel der Partei der Skeptiker betrachtet oder auch als Skeptiker, die sich auf die Seite des Bösen geschlagen haben. Wenn sie das Sagen hätten, stünde bald kein Stein mehr auf dem anderen und es gäbe überhaupt keine Gewissheiten mehr.
Vor diesem Hintergrund sahen sich die letzten Verteidiger Montaignes plötzlich gezwungen zu beweisen, dass Montaigne während der Pestepidemie vernünftig gehandelt hatte und dass er letztlich kein extremer Skeptiker war, sondern ein konservativer Moralist und guter Christ. Der einflussreiche Kritiker Émile Faguet veröffentlichte eine ganze Serie von Artikeln, in denen er zu zeigen versuchte, dass der Skeptizismus in den Essais nur eine marginale Rolle spielt. Und Edmé Champion entdeckte zumindest keine Spuren jenes destruktiven Skeptizismus, der alles «leugnete» oder «vernichtete».
Die Debatte war deshalb bedeutsam, weil die Essais in Frankreich gerade vom Index der verbotenen Bücher genommen worden waren: 1854, ein, zwei Jahre nach der Entdeckung von Montaignes erstem Brief an die Schöffen im pestverseuchten Bordeaux, wenn auch gewiss nicht als Folge dieses Fundes. Die Entscheidung war vielmehr überfällig gewesen. Trotz der Verurteilung durch die Kirche war Montaigne in Frankreich inzwischen Teil des Kanons und Gegenstand einer neuen literarischen und biographischen Forschungsrichtung. Die Aufhebung des Verbots steigerte den Bekanntheitsgrad der Essais und ebnete ihnen den Weg zu einer größeren Leserschaft, stellte aber zugleich dringlicher die Frage nach ihrer moralischen Akzeptanz.
Wie Pascal und Malebranche betrachteten jetzt viele Montaigne als Betrüger und Seelenverderber. Guillaume Guizot, der ihn 1866 einen großen «Verführer» nannte, tat alles, um die Leser vor dieser Verführung zu schützen. Er hatte einst selbst im Bann von Montaigne gestanden, jetzt widmete er sich wie ein abtrünniges Sektenmitglied geradezu missionarisch der Aufgabe, andere Opfer aus dieser Verstrickung zu befreien.
Er zählte die Gefahren auf, die bei Montaigne lauerten und sich zu einer gravierenden Charakterschwäche summierten. Montaigne sei willensschwach und egozentrisch. Er sei viel weniger Christ, als behauptet. Er habe sich aus reiner Selbstsucht aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen, um mehr Zeit für Kontemplation zu haben — aber nicht für religiöse Kontemplation, was verzeihlich gewesen wäre. Persönliche Fehler, die er dabei an sich entdeckte, habe er nicht zu korrigieren versucht; vielmehr habe er sich so akzeptiert, wie er war. Gottlos und verantwortungslos, sei er nicht der Schriftsteller, den die Leser bräuchten: «Er wird aus uns nicht die Menschen machen, die unsere Zeit benötigt.»
Schuld an all diesen Fehlern und Schwächen war — so sah es der Historiker Jules Michelet, einer der schärfsten Kritiker Montaignes überhaupt — die viel zu freie Erziehung, die Montaigne genossen habe: Sie könne nur einen «schwachen und negativen» Menschen hervorbringen, keinen Helden oder guten Staatsbürger. Schuld sei auch das morgendliche Wecken mit getragenen musikalischen Klängen. Michelet beschrieb den erwachsenen Montaigne als einen Lebensuntauglichen, der sich in seinen Turm zurückzog, «um sich selbst beim Träumen zuzusehen» — die unvermeidliche Folge seiner dekadenten, disziplinlosen Erziehung. In England veröffentlichte der Theologe Richard William Church eine ansonsten im Ton der Bewunderung gehaltene Untersuchung, in der er behauptete, Montaigne habe ein überwältigendes Gespür für «die Nichtigkeit des Menschen, die Kleinheit seiner größten Pläne und die Leere seiner größten Leistungen» gehabt — alles klare Zeichen für Nihilismus. Deshalb habe er auch nicht an «die Idee der Pflicht, das Streben nach dem Guten und den Gedanken der Unsterblichkeit» glauben können. Insgesamt zeige er «Trägheit und Mangel an moralischen Maßstäben».
Ein (zumindest aus heutiger Sicht) weniger gravierendes moralisches Problem, das Montaignes Leser im 19. Jahrhundert beschäftigte, war seine Aufgeschlossenheit gegenüber Sex. Diese Erkenntnis war zwar nicht vollkommen neu, wurde aber jetzt zentral für die Frage nach seiner Autorität als Schriftsteller. Schon in der Vergangenheit hatte seine Verwendung von Wörtern wie Arsch, Spalte und Rute gelegentlich Anstoß erregt. Lord Halifax, dem eine englische Übersetzung des 17. Jahrhunderts gewidmet ist, sagte: «Ich kann das nicht aushalten. Nachdem er über das beispielhafte Leben eines heiligen Mannes gesprochen hat, redet er vom Hörner-Aufsetzen und von Geschlechtsteilen und anderen derartigen Dingen […]. Ich wünschte, er hätte all das beiseitegelassen, damit die Damen nicht erröten müssen, wenn seine Essais in ihrer Bibliothek entdeckt werden.» Der letzte Satz wirkt ironisch, da Montaigne gewitzelt hatte, die gewagten Passagen seines letzten Buchs würden dazu führen, dass es aus den Bibliotheken verbannt und in die Boudoirs der Damen Eingang finden würde, wo er sich viel lieber sähe.
Eine Lösung des Problems errötender Damen waren zensierte Ausgaben, im 19. Jahrhundert eine gängige Praxis. Gekürzte Ausgaben der Essais gab es zwar schon seit langem, aber ihr Ziel war es gewesen, den Stoff so anzuordnen, dass die Perlen der Weisheit leichter zu finden waren. Jetzt dagegen sah man sich um des guten Geschmacks und der Moral willen zu Eingriffen genötigt.
Eine solche bereinigte Ausgabe der Essais für ein weibliches Publikum erschien im Jahr 1800 in England, die Herausgeberin nannte sich Honoria. Ihren Essays, Selected from Montaigne with a Sketch of the Life of the Author legte sie Charles Cottons damals gängige englische Übersetzung zugrunde und kürzte sie, um einen von allem Verstörenden und Irritierenden befreiten Montaigne für das bevorstehende 19. Jahrhundert zu schaffen.
«Wenn diese Essays durch die Trennung des reinen Erzes von allen Schlacken für die Lektüre meines eigenen Geschlechts geeignet sein werden», schrieb Honoria, «so werde ich mich reich belohnt fühlen.» Dass sie dafür die «groben und geschmacklosen Anspielungen» selbst genau studieren musste, bleibt unerwähnt. Sie hilft Montaigne auch mit grundlegenden Schreibtechniken auf die Sprünge. «Auch ist er bei seinen Themen oft so zusammenhangslos und in seinen Ansichten so sprunghaft, dass nicht immer ersichtlich ist, was er meint.» Honoria verhilft ihm zu größerer Klarheit und fügt Fußnoten ein, weist ihn zurecht (etwa weil er die Massaker der Bartholomäusnacht unerwähnt lässt) und warnt die Leserinnen davor, die gefährlicheren seiner Ideen zu Hause auszuprobieren. Besonders Kinder sanft durch Musik zu wecken sei «eine exzentrische Art und Weise der Erziehung», die «hier keinesfalls als Methode empfohlen wird».
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