In ihrem Vorwort lässt sie einen unerträglich ernsten und rechtschaffenen Montaigne auftreten. «Seine Philosophie sollte nicht Spekulation bleiben, vielmehr wollte er sein ganzes Leben, nicht nur die Zeit im Alter nach deren Grundsätzen gestalten.» Auch seinen politischen Konformismus hebt sie hervor und verweist auf die «vielen erhabenen religiösen Ansichten, die in seine Essais eingestreut sind». Mit solchen Bemerkungen würde man heute keine Leser gewinnen, aber Honoria hatte den Markt des beginnenden 19. Jahrhunderts im Auge und schuf für diesen Markt einen stirnrunzelnden und nachdenklichen neuen Montaigne mit gestärktem Kragen.
Freilich schätzten auch im 19. Jahrhundert viele Leser den subversiven, individualistischen Montaigne, der sich keine Fesseln anlegen ließ. Doch Honoria — und nicht nur sie — machte ihn auch für andere Leser akzeptabel, die gleichfalls einen Montaigne nach ihrem eigenen Zuschnitt suchten. Jetzt konnten die Essais nicht mehr nur im Boudoir, auf einem romantischen Berggipfel oder in der Bibliothek eines Weltmanns gelesen werden, sondern von einer sittsamen, unschuldigen jungen Dame, die Montaigne an einem Sommertag im Garten in einer bereinigten Fassung im Oktavformat in der Hand hielt. Und was man ihr dort vorenthielt, das konnte sie in der Bibliothek ihres Vaters nachlesen.
Missionen und Morde
Montaigne schockiert tatsächlich immer wieder, aber nicht immer da, wo man es erwartet. Die Irritation ist dann am größten, wenn er nebenbei spricht und beispielsweise beiläufig sagt: «Ich frage mich, ob ich ohne Gesichtsverlust gestehen darf, wie wenig es mich an Ruhe und Seelenfrieden gekostet hat, mehr als die Hälfte meines Lebens mitten im Zusammenbruch meines Landes zu verbringen.» Es dauert ein paar Momente, ehe man begreift, was man da gerade gelesen hat: erstaunliche Äußerungen, egal, in welcher historischen Epoche. Doch dann wird einem klar, dass er keineswegs immer in Ruhe und Frieden leben konnte. In den 1580er Jahren hatte Montaigne immer wieder Verantwortung zu tragen, die ihm sehr viel abverlangte, sosehr er sie in den Essais auch herunterspielte.
Während seiner Amtszeit als Bürgermeister von Bordeaux herrschte zwar offiziell Frieden im Land, aber zu dem Zeitpunkt, als er sich wieder auf sein Gut zurückgezogen hatte, tat die katholische Liga alles, um einen neuen Krieg heraufzubeschwören. Es war auch längst nicht mehr nur ein religiöser Konflikt. Die wichtigste politische Frage lautete, wer Heinrich III. auf dem Thron nachfolgen sollte, da er keinen Sohn oder geeigneten nahen Verwandten hatte. Die Monarchie drohte zum Spielball politischer Kräfte zu werden.
Die meisten Protestanten und einige wenige Katholiken favorisierten Heinrich, den protestantischen König von Navarra, der in der Region Bordeaux sehr einflussreich und in der Erbfolge der französischen Krone am nächsten war. Seine Zugehörigkeit zum Protestantismus war jedoch sein größtes Hindernis. Sein Hauptrivale war sein Onkel Karl von Bourbon, auch Kardinal von Bourbon genannt, dessen Thronanspruch von den Ligisten und deren mächtigem Anführer, dem Herzog von Guise, unterstützt wurde. Der König selbst war allerdings noch am Leben und unschlüssig, welchen seiner potentiellen Nachfolger er unterstützen sollte. Die folgende Phase des Krieges wurde als «Krieg der drei Heinriche» bekannt — ein schwindelerregend schnell rotierendes Karussell mit Heinrich III., Heinrich von Navarra und Heinrich, Herzog von Guise.
Die politiques , unter ihnen auch Montaigne, unterstützten aus Prinzip den derzeitigen König, ungeachtet dessen, was er tat. Als Nachfolger befürworteten die meisten von ihnen Heinrich von Navarra, was den Hass der Ligisten noch weiter schürte. In den Augen der katholischen Extremisten war ein protestantischer König auf dem Thron gleichbedeutend mit dem Teufel.
In seiner politischen Rolle als Bürgermeister einer katholischen Stadt unweit des Territoriums Heinrichs von Navarra wie auch persönlich, als guter Diplomat, war Montaigne für eine solche Vermittlung zwischen den Parteien bestens geeignet und rang um einen Kompromiss. Er kam mehrmals mit Heinrich von Navarra zusammen, der auch bei ihm zu Gast war, und schloss Freundschaft mit Heinrichs einflussreicher Mätresse Diane d’Andouins, genannt Corisande. Im Dezember 1584 verbrachte Heinrich von Navarra ein paar Tage auf Montaignes Schloss — zu einem Zeitpunkt, da sogar der König ihn dazu drängte, dem Protestantismus abzuschwören, um seinen Thronanspruch durchzusetzen. Der Navarrer lehnte ab. Jetzt bemühte sich Montaigne darum, Heinrich von Navarra umzustimmen.
In persönlicher Hinsicht war der Besuch ein voller Erfolg. Das Vertrauen Heinrichs in seinen Gastgeber war so groß, dass er sogar die Dienste von Montaignes Personal in Anspruch nahm und die Speisen nicht vorkosten ließ, da er keine Angst hatte, vergiftet zu werden. All das hielt Montaigne in seinem «Beuther» fest:
19. Dezember 1584. Der König besuchte mich auf Montaigne, wo er niemals gewesen war, und wurde daselbst zwei Tage von meinen Leuten, ohne einen einzigen seiner Offiziere, bedient. Er litt weder Verkostung, noch gebrauchte er sein Tafelzeug [ il n’y souffrit ni essai ni couvert ] — und er schlief in meinem Bette.
Der Gastgeber hatte also eine große Verantwortung, und Gäste dieses Kalibers erwarteten auch, königlich unterhalten zu werden. Montaigne organisierte eine Jagdpartie: «Am Tag darauf ließ ich einen Hirsch in meinen Wäldern los, der ihn [den König] zwei Tage in Atem hielt.» Montaige spielte die Gastgeberrolle offenbar perfekt, doch sein diplomatischer Plan scheiterte. Ein Brief Montaignes an Matignon einen Monat später zeigt, dass er es dennoch weiter versuchte. Unterdessen wurde Heinrich III. von der (in Paris jetzt sehr mächtigen) katholischen Liga unter Druck gesetzt, die hugenottenfeindliche Gesetzgebung so zu verschärfen, dass zugleich auch Heinrich von Navarra von der Thronfolge ausgeschlossen wurde. Im Gefühl, in seiner eigenen Stadt keinen Rückhalt mehr zu haben, gab Heinrich III. nach und erließ im Oktober 1585 ein Edikt, das den Hugenotten drei Monate Zeit ließ, entweder ihrem Glauben abzuschwören oder das Land zu verlassen.
Wenn dies ein Versuch war, den Krieg zu verhindern, bewirkte er genau das Gegenteil. Der Navarrer rief seine Anhänger zum Widerstand gegen die neuerliche Repression auf. Im Frühjahr erließ König Heinrich III. weitere hugenottenfeindliche Gesetze, die den Navarrer zusehends erbitterten. Katharina von Medici, die Mutter des Königs, versuchte wie Montaigne, in letzter Minute eine Verständigung zu erreichen, aber auch sie scheiterte.
Es war der letzte, aber auch der längste und blutigste Bürgerkrieg. Er dauerte bis 1598, Montaigne sollte also den Frieden nicht mehr erleben. Mehr als je zuvor in den Jahren der troubles wurde die Bevölkerung von schrecklichen Verwüstungen, Hungersnot und Seuchen heimgesucht. Plündernde Soldatenhorden und hungernde Flüchtlinge durchzogen das Land.
Nicht nur die Anarchie auf dem flachen Land setzte Montaigne jetzt zu, Gefahr drohte auch von seinen alten Feinden in Bordeaux. Für einen guten Katholiken hatte er einfach zu viele protestantische Freunde. Jeder wusste, dass er Heinrich von Navarra bei sich zu Gast gehabt hatte, und einer seiner Brüder kämpfte in dessen Armee. Wie Montaigne selbst es formulierte, war er «den Ghibellinen ein Guelfe und den Guelfen ein Ghibelline» — eine Anspielung auf die beiden Parteien, die Italien jahrhundertelang gespalten hatten. «Es kam freilich deswegen zu keinen förmlichen Anklagen, denn da gab es nichts, woran man sich hätte festbeißen können», schrieb er, nur «heimliche Verdächtigungen.» Dennoch verließ er sein Gut weiterhin unbewaffnet, getreu seinem Grundsatz der Offenheit. Im Juli 1586 belagerte eine Streitmacht der Liga mit 20.000 Soldaten Castillon an der Dordogne, keine zehn Kilometer entfernt. Auch Montaignes Anwesen blieb von den Kämpfen nicht verschont, da einige Truppen auf seinen Ländereien ihr Lager errichteten. Die Soldaten plünderten seine Felder und raubten seine Bauern aus.
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