Das klingt rebellisch, aber Montaigne wie Cordelia standen in diesem Punkt nicht wirklich auf Kriegsfuß mit ihrer Epoche. In der Spätrenaissance standen die Tugenden der Aufrichtigkeit und Natürlichkeit hoch im Kurs. Indem Montaigne seine Freimütigkeit betonte, verwahrte er sich zugleich gegen einen Vorwurf, der immer wieder gegen die politiques erhoben wurde: Sie würden sich verstellen und einschmeicheln und verdienten kein Vertrauen. An manchen Stellen in den Essais klingt Montaigne fast wie das Zerrbild eines politique: uneindeutig, extrem raffiniert, irrreligiös und ausweichend. Es konnte also nicht schaden, sich gelegentlich unverblümt zu äußern.
Und mit demselben Kniff, der das Fehlen von Türschlössern als eine gute Sicherheitsmaßnahme erscheinen ließ, erwies sich Montaignes ruppige Ehrlichkeit als hervorragender diplomatischer Trick, der ihm mehr Türen öffnete, als die gewundenen Täuschungsmanöver seiner Kollegen es jemals vermochten. Selbst den mächtigsten Fürsten im Land — und vielleicht gerade ihnen — blickte er fest ins Gesicht, um «ihnen rundheraus zu sagen, wo für mich die Grenzen liegen». Seine Offenheit bewog auch andere zur Offenheit und löste ihnen die Zunge wie der Wein und die Liebe.
Die Gefahr, politisch zwischen allen Stühlen zu sitzen, tat Montaigne in der Regel ab. Das Verhalten Menschen gegenüber, die einander spinnefeind waren, sei nicht wirklich schwierig, schrieb er. Man müsse sich beiden Seiten gegenüber mit angemessenem Wohlwollen verhalten, ohne sich an den einen oder den anderen zu binden; man dürfe von anderen nicht zu viel erwarten, ihnen aber auch nichts anbieten. Seine Strategie könnte man in dem Satz zusammenfassen: Mache deinen Job gut, aber nicht zu gut. Er selbst folgte dieser Devise. So hielt er sich aus allen Problemen heraus und blieb gleichzeitig ganz der Mensch, der er war. Er erfüllte seine Pflicht, nicht mehr und nicht weniger.
Nicht alle konnten dies nachvollziehen, doch nicht seine Zeitgenossen, sondern die Nachwelt tadelte ihn dafür. Cordelias Verhalten erweist sich in Shakespeares Stück als das richtige: An ihrer aufrichtigen Liebe zu ihrem Vater gibt es nicht den geringsten Zweifel. Montaigne dagegen bekam Imageprobleme, die mit seiner Amtsführung als Bürgermeister zu tun hatten. Er wusste, wie riskant es war, in den Essais ganz unprätentiös über sich und seine Handlungen zu schreiben: «Letzten Endes […] geht es, wenn man von sich selber spricht, nie ohne Verluste ab: Alle finden die Selbstbeschuldigungen glaubwürdig und unglaubwürdig das Eigenlob.» Vielleicht hatte die alte Regel, nie über sich selbst zu schreiben, doch etwas für sich.
Moralische Einwände
Wie eng Montaigne seine Pflicht auslegte, zeigte sich in aller Deutlichkeit im Juni 1585, als in Bordeaux nach einer Hitzewelle die Pest ausbrach: eine besonders unheilvolle Kombination. Die Epidemie wütete bis Dezember, und in diesen wenigen Monaten starben mehr als 14.000 Menschen, fast ein Drittel der Stadtbevölkerung. Damit forderte die Pest mehr Opfer als die Massaker der Bartholomäusnacht im gesamten Land, und dennoch — wie so oft bei Epidemien in Zeiten des Krieges — blieben kaum Spuren dieser Katastrophe im historischen Gedächtnis: Im 16. Jahrhundert wütete die Pest so oft, dass man ihre verheerenden Folgen leicht vergisst.
Als in jenem Jahr in Bordeaux Gerüchte über einen Ausbruch der Pest in Umlauf kamen, floh aus der Stadt, wer immer die Möglichkeit dazu hatte. Nur wenige Beamte harrten auf ihren Posten aus. Die meisten Mitarbeiter des Parlaments verließen die Stadt, auch vier der sechs Schöffen. Am 30. Juni schrieb Matignon an den König: «Die Pest breitet sich in dieser Stadt so schnell aus, dass niemand geblieben ist, der Mittel und Wege hat, anderswo zu leben.» Das war noch in der Anfangsphase der Seuche. Einen Monat später teilte Matignon Montaigne mit: «Alle Einwohner haben die Stadt verlassen, jedenfalls diejenigen, die ihr in irgendeiner Weise Hilfe bringen könnten; denn die kleinen Leute, die geblieben sind, sterben wie die Fliegen.»
Matignon zählte offenbar zu denen, die geblieben waren, Montaigne jedoch hatte sich bei Ausbruch der Pest gar nicht in der Stadt befunden. Er war im Begriff gewesen, von zu Hause aus nach Bordeaux aufzubrechen, um am Zeremoniell der Amtsübergabe teilzunehmen. Seine Amtszeit war vorüber, Matignon sollte sein Nachfolger werden. Der 1. August 1585 war sein letzter Tag im Amt; wenn also Matignons Brief vom 30. Juli stammt, blieben Montaigne noch zwei Tage als Bürgermeister. Die einzige Aufgabe, die er zu diesem Zeitpunkt noch zu erfüllen hatte, bestand offenbar darin, der Zeremonie beizuwohnen, mit der Matignons Wahl besiegelt wurde. Doch unter den gegebenen Umständen konnte man davon ausgehen, dass kaum jemand daran teilnehmen würde, falls die Zeremonie überhaupt stattfand.
Montaigne musste sich also entscheiden, ob er zur Amtsübergabe nach Bordeaux reisen sollte oder nicht. Sein Anwesen war von der Seuche nicht betroffen: Wenn er jetzt nach Bordeaux ginge, würde er um einer reinen Formalität willen in ein Pestgebiet reisen. Was verlangte die Pflicht? Unsicher, was er machen sollte, ging er nach Libourne, das näher an Bordeaux lag, aber noch außerhalb der Gefahrenzone. Von dort schickte er den wenigen noch verbliebenen Beamten einen Brief und bat um ihren Rat. «Ich werde weder Leben noch sonst etwas sparen, um Euch einen Dienst zu leisten», versicherte er, fügte aber hinzu, er überlasse «es Euch, zu urteilen, ob derjenige, den ich Euch durch meine Anwesenheit bei der nächsten Wahl erweisen kann, wert ist, dass ich das Wagestück unternehme, nach der Stadt zu gehen, in Anbetracht des schlechten Zustandes, in dem sie sich augenblicklich befindet». Er werde auf Schloss Feuillas auf der anderen Seite des Flusses Garonne abwarten. Von Feuillas aus schrieb er am folgenden Tag erneut und wiederholte die Frage, was man ihm empfehlen würde.
Die Antwort der Schöffen ist nicht überliefert. Sicher ist nur, dass Montaigne nicht nach Bordeaux ging. Entweder man riet ihm, der Stadt fernzubleiben — falls überhaupt noch einer der Schöffen in der Stadt war —, oder man antwortete ihm gar nicht. Irgendjemand muss jedoch zu diesem Zeitpunkt noch im Parlament gearbeitet haben, denn es wurde die Order erlassen, dass niemand in die Stadt einreisen dürfe. Wäre Montaigne nach Bordeaux gegangen, hätte er gegen diese Anordnung verstoßen. Offenkundig befragte er sein Gewissen und kehrte auf sein Anwesen zurück. Inzwischen waren auch die letzten beiden Tage seiner Amtszeit verstrichen, die damit offiziell zu Ende war. Statt eines Abschiedszeremoniells und feierlicher Dankesreden gab es nur Verwirrung und Chaos.
Zu Montaignes Lebzeiten hat anscheinend niemand seine Entscheidung kritisiert. Massive Kritik wurde erst zweihundertsiebzig Jahre später laut, als im 19. Jahrhundert die Briefe im Stadtarchiv von Bordeaux wiederentdeckt und veröffentlicht wurden. Die Welt hatte sich inzwischen grundlegend verändert: Heroismus und Selbstaufopferung hatten eine ganz neue Bedeutung bekommen.
Der Entdecker der Briefe, Arnaud Detcheverry, meinte, sie dokumentierten Montaignes Tendenz zu einem «unbekümmerten Epikureismus», womit er der späteren Kritik den Ton vorgab. Der frühe Montaigne-Biograph Alphonse Grün attestierte Montaigne mangelnden Mut, weil er auf der anderen, sicheren Flussseite blieb. In einer Vortragsreihe zu Grüns Buch äußerte Léon Feugère, Montaigne habe «das Missgeschick gehabt, in der ernstesten Situation seine Pflicht zu vergessen». In seinen Augen diskreditierte dieser Vorfall Montaignes gesamtes Werk. Wenn der Verfasser der Essais in einer solchen Situation versage, wie könne man dann dem trauen, was er über die praktische Lebensführung zu sagen habe? Seine Pflichtvergessenheit entlarve den größten philosophischen Fehler der Essais: die «völlige Abwesenheit von Entscheidung». Andere stimmten ihm zu. Der Chronist Jules Lecomte verurteilte Montaigne und seine ganze Philosophie mit einem Wort: «Feigling!»
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