»Constance«, sagte George, »laß uns heimgehen.«
Madeline und Hettie, das Hausmädchen, wischten eine vom Mehltau befallene große Truhe aus, als Schritte die Mansardentreppe hochgepoltert kamen. »Miss Madeline? Sie kommen besser schnell.«
Augenblicklich ließ sie den feuchten Lappen fallen. »Was gibt’s, Aristotle?«
»Miss Clarissa. Sie machte nach dem Frühstück ihren Spaziergang. Haben sie im Garten gefunden.«
Furcht krallte sich in ihr fest, so scharf wie die Luft des Wintermorgens. Sie rannten hinunter zum Garten, wo Clarissa zwischen zwei Azaleenbüschen auf dem Rücken lag. Clarissa starrte Madeline und den Sklaven mit glitzernden Augen an.
Ihre linke Hand streckte sich ihnen entgegen. Die rechte Hand lag unnatürlich schlaff da.
»Es ist ein Schlaganfall«, sagte Madeline zu dem erschrockenen Schwarzen. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen; vor Neujahr würde sie jetzt doch nicht wegkommen. Sie konnte nicht fort, ehe sich Clarissa erholt hatte.
Um halb zwölf kam der Doktor aus Clarissas Schlafzimmer. Äußerlich ruhig und gefaßt nahm Madeline die Nachricht entgegen, daß die rechte Seite fast vollständig gelähmt war; die Genesung würde möglicherweise das ganze nächste Jahr dauern.
47
Der Heilige Abend fiel auf einen Dienstag. George konnte die düstere Stimmung nicht abschütteln, die ihn seit dem Empfang für McClellan gefangenhielt. Der Krieg, die Stadt, selbst die Jahreszeit deprimierten ihn, er wußte selbst eigentlich nicht, warum.
Ein Feuer im Herd wärmte das Wohnzimmer nach dem Abendessen. Patricia schlug ein Buch mit Chorälen auf, setzte sich an das Harmonium, das George gekauft hatte, und begann zu spielen. Constance kam mit drei großen Geschenken aus dem Schlafzimmer.
»Sing mit mir, Papa«, sagte seine Tochter. Er schüttelte den Kopf und blieb auf seinem Stuhl sitzen. Constance ging zum Harmonium und sang zusammen mit ihrer Tochter. Gelegentlich warf sie einen Blick auf ihren Mann. Seine Mutlosigkeit beunruhigte sie. »Willst du nicht, George?« fragte sie schließlich.
»Nein.«
William kam herein und sang mit; die Pubertät ließ seine Stimme umkippen, und Patricia kicherte so heftig, daß Constance sie ermahnen mußte. Nach dem Choral sagte William: »Pa, kann nicht heute abend jeder von uns ein Geschenk aufmachen?«
»Nein. Du bist mir damit schon den ganzen Abend auf die Nerven gegangen, und ich hab’s satt.«
»Entschuldige, George«, sagte Constance. »Er hat lediglich einmal davon gesprochen.«
»Einmal oder hundertmal, die Antwort ist nein.« Er wandte sich an seinen Sohn. »Morgen früh werden wir in die Kirche gehen, und danach gibt’s die Geschenke.«
»Nach der Kirche?« rief William. »So lange warten, das ist nicht fair. Warum nicht nach dem Frühstück?«
»Die Entscheidung liegt bei deinem Vater«, sagte Constance sanft. Ihr leichtes Stirnrunzeln beachtete George nicht.
William wollte sich nicht besänftigen lassen. »Das ist nicht fair!«
»Ich werde dir schon zeigen, was fair ist, du impertinenter – «
»George!« Er war schon fast bei seinem Sohn, als Constance dazwischentrat. »Denk dran, es ist Heiligabend. Wir sind deine Familie, und du tust, als wären wir deine Feinde. Was ist los mit Dir?«
»Nichts – ich weiß nicht – wo sind meine Zigarren?« Er lehnte sich an den Kaminsims, mit dem Rücken zu den anderen. Sein Blick fiel auf den Lorbeerzweig, den er von Lehigh Station mitgebracht hatte. Der Zweig war verdorrt und braun. Er packte ihn und schleuderte ihn ins Feuer.
»Ich geh’ zu Bett.«
Der Lorbeer rauchte, rollte sich zusammen und war verschwunden.
Er hatte keine Ahnung, wann Constance ins Schlafzimmer kam, so tief war er in seinen Alpträumen gefangen. Sie strich ihm das Haar aus der schweißfeuchten Stirn, küßte ihn. Wie warm sie sich anfühlte. Seine Hände umfaßten sie und hielten sie fest; er schämte sich seiner Schwäche, war aber dankbar für ihren Trost. »Was hast du geträumt? Es muß ja schrecklich gewesen sein.«
»Mexiko – nein, Bull Run. Tut mir leid, daß ich mich heute abend so scheußlich benommen habe. Ich werde gleich morgen früh mit den Kindern sprechen. Wir machen die Geschenke auf. Sie sollen wissen, daß es mir leid tut.«
»Sie wissen, daß du ein guter Vater bist. Sie lieben dich und wollen dich glücklich sehen, vor allem an Weihnachten.«
»Der Krieg macht Weihnachten zu einem schlechten Witz.« Er preßte sein Gesicht gegen das ihre.
»Ist es der Krieg, der dir solche Sorgen bereitet?«
»Wahrscheinlich. So ein kleines Wort, Krieg, und wieviel Elend verbirgt sich dahinter. Ich ertrage die Unehrlichkeit in dieser Stadt nicht mehr. Die Gier hinter den fahnenschwenkenden Sprüchen. Weißt du was? In dem Tempo, in dem Stanley Stiefel an die Infanterie verkauft, wird er innerhalb eines Jahres einen gewaltigen Profit gemacht haben. Praktisch ein kleines Vermögen. Und weißt du auch, daß die Schuhe, die er liefert, nach einer Woche auseinanderfallen?«
»Von solchen Dingen weiß ich lieber nichts.«
»Was mich am meisten beunruhigt, ist etwas, was Thayer während des Essens sagte. Man baut keine schlagkräftige Armee in neunzig Tagen auf. Dazu braucht man zwei oder drei Jahre.«
»Du meinst, er hält es für möglich, daß der Krieg so lange dauert?«
»Ja. Der Frühlingskrieg – kurz und sauber – war eine grausame Illusion. Krieg ist nicht so, niemals. Jetzt ändert sich alles. Andere Männer übernehmen das Kommando, Männer wie Stevens, die auf Gemetzel aus sind. Kann Billy das überleben? Was ist mit Orry und Charles? Wenn ich Orry je wiedersehe, wird er dann noch mit mir sprechen? Lange Kriege erzeugen endlosen Haß. Ein langer Krieg wird die Menschen verändern, Constance. Die Verzweiflung wird sie umbringen, wenn sie nicht schon vorher sterben. All dem hab’ ich schließlich ins Auge gesehen – und schau dir an, was es bei mir bewirkt hat.«
Sie drückte ihn an ihre Brust. Ihr Schweigen besagte, daß sie seine Ängste verstand und teilte und keine Antworten auf seine Fragen hatte. Schließlich erhob er sich und schloß das Fenster. Draußen hatte es wieder zu schneien begonnen.
48
Während des Herbstes hatte Charles seine Schrotflinte nur dreimal gegen den Feind abgefeuert. Jedesmal hatte er dabei einen Spähtrupp angeführt; jedesmal hatte er auf fliehende Yanks zu Pferd geschossen. Einen hatte er verwundet, die anderen hatte er verfehlt.
Das war typisch für die Monate nach Manassas: ereignislos, mit Ausnahme des aufmunternden Sieges bei Ball’s Bluff Ende Oktober. Shanks Evans aus South Carolina, der in Texas bei Pferderennen gegen Charles geritten war, hatte sich bei Ball’s Bluff ausgezeichnet, so wie er es bereits bei Manassas getan hatte. Seine Beförderung war allerdings zweifelhaft; er trank zuviel und war zu unbeherrscht.
Die Ernennung des Colonels andererseits zum Brigadier schien sicher zu sein. Er verstand sich gut mit Johnston, dem man nach Ball’s Bluff das ganze Department Virginia zur Umorganisation gegeben hatte. Old Bory war weiterhin in Ungnade und kommandierte nun den Potomac-Distrikt, der zu dem Department gehörte. In der Praxis trug Hampton seit November die Verantwortung eines Brigadiers, nachdem ihm drei weitere Infanterieregimenter unterstellt worden waren. Calbraith Butler kommandierte die Kavallerie.
Während des Herbstes hatte Charles lediglich zwei freie Tage gefunden, in denen er das Spotsylvania County besuchen konnte. Nach einem schnellen, ermüdenden Ritt hatte er Barclays Farm problemlos gefunden, um feststellen zu müssen, daß die Besitzerin abwesend war. Der ältere ihrer beiden freigelassenen Sklaven, Washington, sagte, sie sei mit dem jüngeren, Boz, nach Richmond gefahren, um den Rest ihrer Maisernte und einige Kürbisse, Eier und Käse zu verkaufen. Charles ritt in bitterer Stimmung zurück, die durch den heftigen Regen auch nicht besser wurde.
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