Die Legion hatte ihr Winterquartier in der Nähe von Dumfries gemacht. Heute, am Heiligen Abend, befand sich Charles allein in der Hütte, die er und Ambrose mit Äxten, Schweiß und ohne Negerhilfe zusammengezimmert hatten. Bis auf einige Unentwegte hatten die meisten Kavalleristen ihre Sklaven nach Hause geschickt.
Vor einer halben Stunde war zum Zapfenstreich geblasen worden. Ambrose hatte Patrouillendienst gezogen, routinemäßige Beobachtung der Unionstruppen in Richtung Fairfax Courthouse. Ein kleines Feuer brannte in der Feuerstelle der Hütte und verbreitete Gemütlichkeit, aber trotzdem war Charles’ Laune nicht die beste. Das Abendessen war ungenießbar gewesen. Für Weihnachten war ihnen Truthahn, süße Kartoffeln und frisches Maisbrot versprochen worden. Charles glaubte erst an ein Festmahl, wenn er es vor sich stehen hatte. Seine Männer haßten das Verpflegungsamt. Sie verfluchten den Leiter, Northrop, ebenso blumig wie Old Abe – manchmal sogar noch heftiger. Das Rindfleisch, wie Colonel Hampton letzte Woche bemerkt hatte, wurde allmählich so zäh, daß er daran dachte, einige Feilen zum Schärfen der Zähne anzufordern.
Päckchen von zu Hause trösteten ein bißchen über die in letzter Zeit deutlich schlechter gewordene Qualität der Rationen hinweg. Charles hatte solch ein Päckchen, oder besser die Reste davon, vor sich auf dem Tisch liegen. Es war heute nachmittag aus Richmond gekommen, mit einem Begleitbrief von Orry, der berichtete, daß er es mittlerweile im Kriegsministerium zum Lieutenant Colonel gebracht und einen Job bekommen hatte, den er verabscheute.
Charles zog seine Taschenuhr hervor. Halb neun. Er hatte heute abend Pflichten zu erfüllen, einige offizieller Natur, andere nicht; er konnte genausogut jetzt schon damit beginnen. Er kratzte seinen Bart, den er sich wachsen lassen durfte, da er das Gesicht warm hielt. Er war schon ein paar Zentimeter lang, die ideale Heimstatt für Ungeziefer aller Art, aber bis jetzt hatte er eine ernsthafte Verseuchung vermeiden können. Anders als seine Kavalleristen wusch er sich so häufig wie möglich. Er haßte es, sich schmutzig zu fühlen, und abgesehen davon wollte er, falls er je das Glück haben sollte, mit Gus Barclay allein zu sein und sie für einen Annäherungsversuch empfänglich war, keine Läuse in seinen intimen Körpersphären nisten haben. Das würde jeder Romanze den Todesstoß versetzen.
Zur Zeit sah er ihr Gesicht oft vor sich. Heute abend wirkte es besonders lebendig. Er fühlte sich einsam und wünschte, er wäre auf Barclays Farm. Energisch schüttelte er den Kopf. Er durfte sich seinen Zustand nicht anmerken lassen; anderen, die ihm anvertraut waren, erging es sicherlich ebenso oder noch schlimmer. Es war seine Pflicht, sich um sie zu kümmern.
Er erhob sich und stülpte sich seinen Hut auf den Kopf, als ganz in der Nähe eine Tenorstimme ›Sweet Hour of Prayer‹ zu singen begann. Er mochte die Melodie und summte sie mit, während er den Revolver umschnallte und nach seinen Handschuhen griff. Sein Atem wurde sichtbar, als er geduckt aus der Tür trat; es hatte leicht zu schneien begonnen. Ambrose wollte gegen Mitternacht zurückkehren; anschließend hatten sie vor, eine Flasche zu öffnen. Vielleicht sollten sie zuvor eine Schneeballschlacht organisieren; vor lauter Inaktivität wurden die Männer streitsüchtig.
Charles ging die Reihe der winterfesten Zelte entlang. Aus einem schmalen Weg zwischen den Zelten drang ein vertrauter, blubbernder Laut. Ärgerlich folgte er ihm. Und natürlich saß da der Übeltäter, Hose und Unterhose um die Knöchel und das Hinterteil hinausgereckt.
»Verdammt noch mal, Pickens, ich hab’s Ihnen oft genug gesagt – benützen Sie die Latrinen. Männer wie Sie bringen die Krankheiten ins Lager.«
Der erschrockene Junge sagte: »Ich weiß, Cap’n, aber ich hab’n schrecklich’n Durchfall.«
»Die Latrinen«, sagte Charles mitleidlos. »Ab mit Ihnen.«
Der Kavallerist zerrte ungeschickt seine Kleidung hoch und hinkte in einer Art seitlichem Krebsgang davon. Charles kehrte zur Straße zurück und marschierte auf den Lagereingang zu, zwei kunstvolle Säulen und ein Bogen aus ineinander verflochtenen, geschälten jungen Bäumchen. Direkt ein Kunstwerk, dieses Tor. Bis zum Frühling würde es stehenbleiben; dann würden sie bestimmt gegen McClellan ins Feld ziehen.
Charles kam an Wache stehenden Männern vorbei und erwiderte ihren Gruß, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Gus Barclays Gesicht verdeckte alles andere. Vor einer Hütte, doppelt so groß wie seine eigene, sagte er zu dem diensttuenden Corporal: »Was ist mit dem Arrestanten?«
»Hat eine halbe Stunde lang geflucht, Captain. Hielt dann die Klappe, als ich ihn nicht beachtete.«
»Lassen wir ihn frei. Niemand sollte am Heiligen Abend unter Strafe stehen.«
Der Corporal nickte, wischte sich die Schneeflocken aus den Augenbrauen und duckte sich in die Hütte. Charles folgte ihm. Ein gewisses Widerstreben regte sich jedoch gegen seine menschenfreundlichen Impulse; bei dem Mann, der kurz vor dem Abendappell hier eingesperrt wor den war, handelte es sich um den ewig renitenten Kavalleristen Cramm. First Sergeant Reynolds hatte wieder mal einen Befehl gegeben, der Cramm nicht paßte, und als der Sergeant davonging, spuckte Cramm lautstark aus. Charles hatte angeordnet, ihn für die Nacht zu fesseln und zu knebeln. Manchmal wünschte er, Cramm wäre ein Yankee; dann könnte er ihn wenigstens erschießen.
Cramm saß auf dem Erdboden der Wachhütte, einem kahlen, von einer Lampe schwach erhellten Raum. Mürrische Augen über dem zugebundenen Mund starrten Charles an. Cramms Handgelenke waren vor den hochgezogenen Knien zusammengebunden worden; ein kräftiger Pinienstock war zwischen Knie und Unterarme gesteckt worden.
»Verdient haben Sie es nicht, Cramm, aber ich lasse Sie raus, weil Weihnachten ist.« Der Wachposten kniete nieder und löste den Knebel. »Bringen Sie ihn zu seinem Zelt, Corporal. Sie bleiben dort bis zur Reveille, Cramm. Verstanden?«
»Jawohl, Sir.« Cramm schnitt übertriebene Grimassen und verdrehte den Kopf, als wäre er schlimm verletzt. Sein Gesicht zeigte keine Spur von Dankbarkeit, lediglich seine ständige Verachtung. Charles spürte, wie der Ärger in ihm hochstieg, und ging schnell hinaus.
Vor einem der winterlichen Zelte stoppte er; aus dem Inneren drang eine jugendliche Stimme: »Oh Gott. Oh Gott. Oh, oh.«
Charles erkannte die Stimme; sie gehörte Reuven Sapp, dem neunzehnjährigen Neffen des Arztes, der Madeline LaMotte so lange mit Laudanum betäubt hatte. Der Junge hatte das Zeug zu einem guten Kavalleristen, wenn er aufhörte, sich von seinen lauteren, aber weniger kompetenten Kameraden einschüchtern zu lassen.
»Oh Gott – oh.« Charles klopfte an die Tür und trat ein, ohne eine Aufforderung abzuwarten. Der Kopf des strohhaarigen Jungen, der auf einer der vier Schlafkojen saß, fuhr nach oben. Ein Brief flatterte zu Boden. »Captain! Ich wußte nicht, daß jemand in der Nähe – «
»Ich wäre nicht reingekommen, aber ich hörte eine Stimme, die ziemlich angeknackst klang.« Charles nahm seinen Hut ab, schüttelte den Schnee herunter und stieg die drei aus Bohlen gebauten Stufen nach unten. Der Herd war dunkel, im Zelt war es eiskalt. »Wo sind Ihre Kameraden?«
»Die schauen draußen, ob sie vielleicht ein paar Hasen erschlagen können.« Sapp bemühte sich, ganz normal zu klingen, aber seine Augen verrieten ihn. »Das Essen heute abend war ganz schön mies.«
»Beschissen. Darf ich mich setzen?«
»Oh, selbstverständlich, Captain. Tut mir leid – « Er sprang auf, als Charles sich einen Stuhl nahm. Er winkte Sapp wieder auf seine Koje und wartete, in der Annahme, daß der Junge ihm schon erzählen würde, weshalb er sich so elend fühlte. Er hatte recht. Sapp hob den Brief auf und begann zögernd zu sprechen.
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