»Und schreiben«, erwiderte sie. »Rechnen kann ich auch. Mrs. Milsom wußte ein Jahr, bevor sie starb, daß es bald mit ihr zu Ende gehen würde, und begann mich zu unterrichten.«
»Das war gegen das Gesetz.«
»Sie sagte, zum Teufel mit dem Gesetz. Sie war eine mutige alte Dame. Sie sagte, ich müsse bereit sein, meinen Weg allein zu machen.« Das Maultier trottete dahin. »Kannst du lesen und schreiben?«
»Nein.« Dann, verzweifelt bemüht, einen guten Eindruck zu machen, platzte er heraus: »Aber ich würd’s gern können. Ein Mann kann sich nicht verbessern, wenn er nichts lernt.«
»Ein Mann kann sich nie verbessern, wenn er das Besitztum von – « Tante Belle schlug ihrer Nichte aufs Handgelenk. »Ich würde dir gern Unterricht geben, aber ich muß erst Mrs. Main um Erlaubnis fragen.«
»Ausgezeichnet«, sagte Andy jubilierend.
Mit Hut, Gehrock und Krawatte, passend zu einer Beerdigung, küßte Orry am nächsten Morgen seine vage lächelnde Mutter. »Dank für Ihren Besuch, Sir. Besuchen Sie uns bald wieder, ja?« sagte sie.
Als er seine Frau küßte, klammerte sie sich an ihn und flüsterte: »Behüt dich Gott, Liebster. Als ich noch klein war, da kam eines Tages plötzlich der Moment, wo ich die Bedeutung des Wortes Tod verstand. Ich fing an zu weinen und rannte zu meinem Vater. Er nahm mich in die Arme und sagte, ich solle mich davon nicht zu sehr ängstigen lassen, weil wir alle von diesem Problem betroffen seien. Er sagte, der Gedanke, daß wir alle sterblich sind, besänftige Herz und Geist. Ich hab’ Jahre gebraucht, um ihn zu verstehen und ihm zu glauben. Ich tu es jetzt, aber – ich möchte nicht, daß es dir früher als unbedingt notwendig zustößt. Das Leben ist so wunderschön geworden.«
»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte er sie. »Bald sind wir wieder vereint. Und ich glaube nicht, daß jemand auf Offiziere feuert, die hinter Schreibtischen sitzen.«
Er küßte und umarmte sie noch einmal, und dann rollte er, mit Aristotle auf dem Kutschbock, die Straße hinunter.
41
Gewisse amerikanische Bürger erinnerten sich, daß Dreck und Krankheit der britischen Armee im Krimkrieg am meisten zugesetzt hatten. Kurz nach dem Fall von Sumter beschlossen diese Leute, nach Möglichkeit eine Wiederholung dieser Fehler in den Lagern der Union zu verhindern.
Nach Bekanntwerden dieses Plans begannen die Armeeärzte bald schon zu spotten und die Zivilisten als Amateure zu bezeichnen, die sich bloß einmischen wollten; die meisten Regierungsbeamten teilten diese Meinung. Die Zivilisten blieben hartnäckig und gründeten die United States Sanitary Commission, die Hygiene-Kommission. Im Hochsommer hatte die Organisation einen Direktor, Frederick Law Olmsted; dieser Mann hatte 1856 den Central Park in New York entworfen und in einem viel gelesenen Reisebericht die Sklaverei mit äußerst unfreundlichen Bezeichnungen bedacht.
Lincoln und das Kriegsministerium wollten die Kommission nicht anerkennen, waren aber schließlich dazu gezwungen, weil wichtige Leute damit in Verbindung standen, einschließlich Mr. Bache, ein Enkel von Ben Franklin, und Samuel Gridley Howe, der berühmte Arzt und Humanist aus Boston.
Die Kommission scharte Unmengen von Frauen im ganzen Norden um sich; die in den ersten Kriegswochen größtenteils individuell geleistete freiwillige Hilfe verlief nun konzentrierter und zielgerichteter. Wie anderswo auch organisierten die Damen den ersten von vielen Gesundheitsmärkten, um Geld und Güter für die Organisation zu sammeln.
Während Scipio Brown seine restlichen Waisenkinder zu dem neu ausgebauten Gebäude brachte und sie der Obhut eines zur Beaufsichtigung angestellten ungarischen Paars anvertraute, war Constance damit beschäftigt, einen Gesundheitsmarkt für den zweiten Freitag und Samstag im November zu planen, unten in Hazards Lagerhaus bei den Eisenbahnschienen neben dem Kanal.
Wotherspoon ließ Arbeitstrupps zwei Tage und Nächte schuften, um eine gewaltige Schiffsladung Eisenblech aus dem Gebäude auf eine Reihe von Spezialzügen zu verladen. Virgilia half als Kommissionsmitglied, ebenso wie Brett, die das vor sich selbst aus zwei Gründen rechtfertigte: Ihr Ehemann war ein Unionsoffizier, und abgesehen davon überwog in jedem Fall das humanitäre Anliegen. Die Kommission wollte letzten Endes nichts weiter als Leben retten. Bretts wirkliches Problem in Verbindung mit dem Markt war die Zusammenarbeit mit Virgilia; sie gestaltete sich schwierig.
Ihre Tätigkeit erregte Virgilia; sie führte einen kleinen, aber sinnvollen Schlag gegen den Süden. Außerdem war sie mit ihrem äußeren Erscheinungsbild recht zufrieden. Constance hatte ihr einen Schal geliehen und Brett eine Ansteckbrosche für ihr dunkelbraunes Kleid. Ein Seidennetz hielt ihr Haar zusammen. Wegen ihrer Redegewandtheit, bei Auftritten an Abolitionistenversammlungen erworben, war sie das beste Zugpferd in der Halle. Sie bekam ein Kompliment von ihrem Sektionsvorsitzenden und ein noch bedeutsameres von einem Mann, den sie nicht kannte.
Es handelte sich dabei um einen Major von der Forty-seventh. Während Virgilia als Demonstration den schlechten Uniformstoff buchstäblich und verbal zerriß, beobachtete er sie über den Gang hinweg, von dem Parfümstand aus; die Soldaten bettelten geradezu um Duftwässerchen, um sich vor dem Gestank der Camplatrinen zu schützen.
Der Offizier betrachtete Virgilia während ihrer Vorführung genau. Sie verlor den Faden, als sein Blick von ihrem Gesicht zu ihren Brüsten und zurück wanderte. Dann ging er, am Arm einer Frau, möglicherweise seiner Ehefrau, aber diese wenigen Momente, in denen er Virgilia angeblickt hatte, waren für sie von ungeheurer Wichtigkeit.
Nach dem letzten Tag des Marktes sank Virgilias Stimmung abrupt. Sie streifte durch Haus und Stadt, wohl wissend, daß ihre Zeit hier abgelaufen war, aber ohne sich zu einem Entschluß durchringen zu können. Die Tage vergingen, und nichts änderte sich.
Fast zwei Wochen nach dem Markt kam Constance mit einem Brief an den Abendbrottisch. »Er ist von Dr. Howe, von der Gesundheitskommission. Ein alter Freund.«
»Ist er das? Von wo kommt er?« fragte Virgilia.
»Newport. Er und seine Frau haben dort zur gleichen Zeit wie wir den Sommer verbracht. Erinnerst du dich nicht?« Virgilia schüttelte den Kopf und beugte sich über ihren Teller; sie hatte diese Jahre fast vollkommen verdrängt.
Brett sagt: »Erwähnt der Doktor unseren Markt?«
»Das tut er. Er schreibt, unserer sei bis jetzt einer der erfolgreichsten gewesen. Bei einer Dinnerparty habe er das Miss Dix persönlich berichtet – hier, lies selbst.«
Brett überflog den Brief und murmelte dann: »Miss Dix, ist das die Frau aus New England, von der ich gelesen habe? Die so schwer um die Reform der Asyle gekämpft hat?«
Constance nickte. »Du hast wahrscheinlich den langen Artikel über sie in Leslie’s gelesen. Es heißt da, Florence Nightingale habe sie dazu inspiriert, bei Kriegsausbruch nach Washington zu gehen. Seit dem Sommer hat sie Oberaufsicht über die Armeekrankenschwestern.«
Virgilia blickte auf. »Sie verwenden Frauen als Pflegepersonal?«
»Mindestens hundert«, erwiderte Brett. »Billy hat’s mir erzählt. Die Frauen bekommen ein Gehalt, Kostgeld, freien Transport – und das Privileg, Soldaten baden zu dürfen, worüber die meist gar nicht begeistert sind, wie mir Billy sagte.«
Constance war Virgilias plötzliche Aufmerksamkeit nicht entgangen. »Würde dich die Arbeit einer Krankenschwester interessieren?«
»Ich glaube schon – obwohl ich wahrscheinlich nicht über die nötigen Qualifikationen verfüge.«
Constance erschien es gnädiger, Virgilia gewisse Details des Artikels in Leslie’s vorzuenthalten. Miss Dix verlangte weder medizinische noch wissenschaftliche Ausbildung; die Bewerberinnen sollten lediglich über dreißig und nicht attraktiv sein. Also konnte Constance wahrheitsgemäß sagen: »Da bin ich anderer Meinung. Soll ich Dr. Howe um ein Empfehlungsschreiben bitten?«
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