»Dein Bruder ist nach Washington gegangen, um für die Regierung zu arbeiten.«
»Oh.« Für einen Moment schloß sie die Augen.
»Wieso bist du hier, Virgilia?«
»Darf ich mich auf den Hocker setzen? Ich fühle mich nicht sonderlich gut.«
»Ja, gut. setz dich«, sagte Constance nach kurzem Zögern. Unwillkürlich ging sie zu dem großen Holzblock und legte ihre Hand auf das Hackmesser. Mit der Langsamkeit einer viel älteren Person sank Virgilia auf den Hocker. Mit Schrecken erkannte Constance. was sie berührte, und zog ihre Hand zurück. Draußen im Hof jubelte William auf und rannte zum Ziel, um drei Pfeile aus dem Zentrum der Zielscheibe zu ziehen.
Constance deutete auf die Reisetasche. »Hast du die im April mitgenommen? Nachdem du mein bestes Tafelsilber hineingetan hattest? Du hast der Familie in jeder nur denkbaren Weise Schande gemacht, und dann ist dir noch eine weitere Möglichkeit eingefallen. Du hast gestohlen.«
Virgilia faltete die Hände im Schoß. Wieviel Gewicht mochte sie verloren haben? Vierzig Pfund? Fünfzig? »Ich mußte leben«, sagte sie.
»Das mag ein Grund sein, eine Rechtfertigung ist es nicht. Wo bist ein seitdem gewesen?«
»An Orten, über die zu reden ich mich schäme.«
»Und doch erdreistest du dich, zurückzukommen.«
Glitzernde Tränen tauchten in Virgilias Augen auf. Unmöglich, dachte Constance. Bis auf ihren schwarzen Geliebten hatte sie nie um etwas geweint.
»Ich bin krank«, flüsterte Virgilia. »Mir ist so heiß und schwindelig, daß ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Den Weg von der Station den Hügel hoch dachte ich, ich werde ohnmächtig.« Sie schluckte, dann folgte die Erklärung für alles. »Ich weiß nicht, wo ich sonst hin könnte.«
»Wollen deine sauberen Abolitionistenfreunde dich nicht aufnehmen?«
Die hämische Bemerkung kam unbewußt, sofort gefolgt von noch mehr Scham. Virgilia war eine geschlagene Kreatur.
Nach langer Pause antwortete sie: »Nein. Nicht mehr.«
»Was willst du hier?«
»Ich will bleiben. Mich erholen. Ich wollte George bitten – «
»Ich sagte dir bereits, er hat einen Posten der Armee in Washington angenommen.«
»Dann bitte ich dich, wenn es das ist, was du willst, Constance.«
»Sei still!« Constance wirbelte herum und bedeckte die Augen. Sie war ernst, aber gefaßt, als sie sich nach einer Minute wieder zu Virgilia umdrehte. »Du kannst nur kurz bleiben.«
»Gut.«
»Höchstens ein paar Monate.«
»Ja. Ich danke dir.«
»Und George darf es nicht erfahren. Hat William dich gesehen, als du ankamst?«
»Ich glaube nicht. Ich war vorsichtig, und er war mit seinem Bogen beschäftigt.«
»Ich fahre morgen zu George und nehme die Kinder mit. Sie dürfen dich nicht sehen. Also wirst du in einem Zimmer der Dienerschaft bleiben, bis wir weg sind. Dann muß lediglich ich lügen.«
Virgilia schauderte; die Worte kamen schneidend scharf. Auch wenn sie sich Mühe gab, konnte Constance nicht alles unter Kontrolle halten. Sie fügte hinzu: »Wenn George dich hier entdecken sollte, würde er dich hinauswarfen.«
»Ja, ich glaube schon.«
»Brett wohnt auch hier. Während Billy in der Armee ist.«
»Ich erinnere mich. Ich bin froh, daß Billy kämpft. Und auch, daß George seinen Teil leistet. Der Süden muß vollkommen – «
Constance packte das Hackmesser und knallte die Flachseite auf den Block. »Virgilia, wenn du auch nur ein Wort von diesem ideologischen Müll von dir gibst, den du seit Jahren auf uns gekippt hast, dann werfe ich dich auf der Stelle eigenhändig raus. Andere mögen das moralische Recht haben, über Sklaverei und Sklavenbesitzer zu sprechen, aber du nicht. Du bist nicht die Richtige, um auch nur über ein einziges menschliches Wesen zu Gericht zu sitzen.«
»Tut mir leid. Ich habe gesprochen, ohne zu überlegen. Es tut mir leid. Ich werde nicht – «
»Das ist richtig, du wirst nicht. Ich werde Schwierigkeiten genug haben, Brett zu überreden, dich auf Belvedere bleiben zu lassen, während ich weg bin und sie das Haus führt. Aber wenn du meine Bedingungen in Frage stellst…«
»Nein, das tu ich nicht.«
Mit der Handfläche schlug sie auf den Block. »Du mußt jede einzelne akzeptieren.«
»Ja.«
»Oder du fliegst auf dem gleichen Weg raus, auf dem du reingekommen bist. Habe ich mich klar und verständlich ausgedrückt?«
»Ja. Ja.« Virgilia senkte den Kopf. »Ja.«
Wieder bedeckte Constance ihre Augen, immer noch verwirrt, immer noch zornig. Virgilias Schultern begannen zu beben. Sie weinte, zuerst fast lautlos, dann lauter. Es war eine Art Wimmern; wie ein Tier. Auch Constance fühlte sich benommen und schwindelig, als sie zur Hintertür eilte, um sich zu vergewissern, daß sie fest verschlossen war und ihr Sohn nichts hörte.
29
»Fordere ich euch beide auf, so wie ihr Zeugnis ablegen werdet am Tage des Jüngsten Gerichts – «
Die Stimme von Reverend Mr. Saxton, Pfarrer der Episkopalgemeinde, wurde plötzlich von anderen Stimmen übertönt. Orry, der in seinem besten und vor allem wärmsten Anzug neben Madeline stand, blickte schnell zu den offenen Fenstern hinüber.
Madeline trug ein schlichtes, aber elegantes Sommerkleid aus weißem Batist. Die Sklaven hatten einen Tag frei bekommen und waren eingeladen worden, der Zeremonie von der Piazza aus beizuwohnen. Ungefähr vierzig Neger und Negerinnen hatten sich im Sonnenschein versammelt. Das Hauspersonal, das sich als höhere Kaste betrachtete und auch dementsprechend behandelt werden wollte, war im Vorraum zugelassen, obwohl dort im Moment nur noch eine einzige Person saß: Clarissa.
»– wenn einer von euch einen Hindernisgrund weiß, warum ihr nicht rechtmäßig in den heiligen Bund der Ehe – «
Der Streit draußen wurde lauter. Jemand schrie.
»– dann leget jetzt Zeugnis ab. Denn seid versichert – «
Der Pfarrer zögerte, verlor den Faden, hustete zweimal, wobei er eine Duftfahne des Sherrys verbreitete, den er zuvor in Gesellschaft der nervösen Braut und des Bräutigams getrunken hatte. Kurz vor ihrer Ankunft hier hatte Orry noch scherzend zu Madeline gesagt, daß vielleicht Francis LaMotte auftauchen könnte, um Einspruch gegen ihre Eheschließung so kurz nach Justins Beerdigung einzulegen. »Denn seid versichert – «, fuhr der Reverend Mr. Saxton fort, als das Geschrei noch stärker wurde. Ein Mann begann zu fluchen. Orry erkannte die Stimme. Mit dunkelrotem Gesicht beugte er sich zu dem Pfarrer vor.
»Entschuldigen Sie mich einen Moment.«
Seine Mutter schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, als er vorbeimarschierte, hinaus in den grellen Sonnenschein. Ein Halbkreis aus schwarzen Gesichtern umgab die Kämpfenden. Orry hörte Andy.
»Laß ihn in Ruhe, Cuffey. Er hat dir nichts getan – «
»Pfoten weg, Nigger. Er hat mich gestoßen.«
»Du hast gestoßen«, erwiderte ein Sklave namens Percival schwach.
Unbemerkt von den Zuschauern hatte sich Orry genähert und brüllte: »Schluß jetzt!«
Die Menge wich zurück, und er sah Cuffey, zerlumpt und mürrisch, breitbeinig über Percivals Beinen stehend. Der zierliche Sklave war gegen ein Wagenrad gefallen oder gestoßen worden. Andy stand einen Meter hinter Cuffey. Er trug saubere Kleidung, wie alle anderen auch. Für Mont Royal war es ein besonderer Tag. Orry ging geradewegs auf Cuffey zu.
»Heute ist mein Hochzeitstag, und ich dulde keine Störungen. Was ist hier passiert?«
»Dieser Nigger hat Schuld«, erklärte Percival und zeigte auf Cuffey. Andy half ihm noch. »Kam rein, da hatte der Prediger schon angefangen, und wir hörten alle zu. Er kam zu spät, aber er wollte besser sehen, da stieß und schob er mich.«
Cuffey saß in der Falle, was ihn noch wütender machte. Haß leuchtete in seinen Augen auf, bevor er den Blick abwandte. »Hab’ nich’ gestoßen. Hab’ mich nich’ gut gefühlt – so schwindelig. Bin bloß gestolpert, hab’ ihn umgestoßen. Hab’ mich nich’ gut gefühlt«, wiederholte er lahm.
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