»Nach Norden?«
»Er vermutet es. Lies den Mercury, und du wirst feststellen, daß sowas ständig passiert. Zum Glück nicht bei uns.«
»Aber an Problemen mangelt es uns auch nicht. Bloß eines – der junge Mann, den du zum Vorarbeiter gemacht hast, als Rambo letzten Winter an Lungenentzündung starb.«
»Cuffey?«
Sie nickte. »Ich bin noch nicht lange hier, aber ich habe eine Veränderung bemerkt. Er ist nicht bloß frech; er ist wütend. Und er macht sich nicht die Mühe, es zu verbergen.«
»Ein Grund mehr, jede Entscheidung zurückzustellen, bis ich einen Aufseher gefunden habe.« Er zog sie an sich. »Geh’n wir ins Haus, schenken uns einen Schluck Wein ein und sprechen über die Hochzeit, ja?«
Madeline schlief längst schon in dieser Nacht, da lag Orry noch wach. Er hatte die Probleme mit den Sklaven heruntergespielt, weil er es haßte, zugeben zu müssen, daß eine so human geführte Plantage wie Mont Royal Schwierigkeiten haben könnte.
Orry spürte einen Wechsel in der Atmosphäre der Plantage. Einige Tage nach Beginn der Feindseligkeiten hatte es angefangen. Während er vom Pferd aus die Feldarbeiten beaufsichtigte, hörte er, wie ein Name gemurmelt wurde, und kam später zu dem Schluß, er sollte ihn auch hören. Der Name war Linkum.
Kurz nach Madelines Ankunft waren ernste Probleme aufgetreten, die ihre Wurzeln in einer Tragödie hatten. Im letzten November war Cuffey, Mitte Zwanzig und noch nicht zum Vorarbeiter ernannt, Vater von Zwillingsmädchen geworden. Cuffeys Frau Anne hatte eine schwere Entbindung; einer der Zwillinge lebte nur dreißig Minuten.
Das andere Mädchen, ein zartes, kleines Ding, nach Orrys Mutter auf den Namen Clarissa getauft, war am 3. Mai dieses Jahres beerdigt worden. Orry hatte davon erfahren, als er und Madeline von einem zweitägigen Aufenthalt in Charleston zurückkehrten, wo die Stimmungswogen hochschlugen und Läden und Restaurants überfüllt waren. Während eines heftigen Gewitters lenkte Orry ihre Kutsche zurück nach Mont Royal, über die fast unpassierbare, schlammige Uferstraße. Als sie bei Einbruch der Nacht ankamen, brannten im großen Haus überall Kerzen und Lampen, und Orrys Mutter wanderte mit einem verlorenen Gesichtsausdruck durch die Räume.
»Ich glaube, es hat einen Todesfall gegeben«, sagte sie.
Nachdem er von einem Hausgehilfen die Einzelheiten erfahren hatte, machte er sich auf den Weg zu der Sklavenansiedlung. In den weißgetünchten Hütten brannten Lichter, aber sonst war alles be merkenswert still. Völlig durchnäßt kletterte er zu Cuffeys Hütte hoch und klopfe.
Die Tür ging auf. Orry war schockiert vom Schweigen des gutaussehenden jungen Sklaven und seinem mürrischen Starren. Im Hintergrund hörte er das leise Weinen einer Frau.
»Cuffey, ich habe gerade von deiner Tochter erfahren. Es tut mir schrecklich leid. Darf ich hereinkommen?«
Unglaublicherweise schüttelte Cuffey den Kopf. »Meine Anne fühlt sich jetzt nicht gut.«
Verärgert überlegte Orry, ob die Ursache dafür ihr Verlust oder etwas anderes war. Er hatte Gerüchte gehört, daß Cuffey seine Frau mißhandelte. Sich beherrschend sagte er: »Auch das tut mir leid. Auf jeden Fall möchte ich zum Ausdruck bringen, daß – «
»Rissa starb, weil Sie nicht da waren.«
»Was?«
»Keiner von diesen hochnäsigen Hausnegern wollte einen Doktor holen, und Ihre Momma konnte nich’ begreifen, daß ich sie brauchte, um Ausweis zu schreiben, damit ich selber Doktor holen kann. Ich bettelte eine Stunde, aber sie schüttelte bloß Kopf wie Verrückte. Ich hab’s versucht, bin zu Doktor gerannt, kein Ausweis, nichts. Wir kamen zurück, und es war zu spät; Rissa war tot. Der Doc schaute einmal, sagte Typhusfieber, und weg war er. Mußte sie ganz allein beerdigen. Kleine Rissa. Tot wie ihre Schwester. Sie wären hier gewesen, mein Baby würde leben.«
»Verdammt, Cuffey, du kannst mir nicht die Schuld geben – «
Cuffey knallte die Tür zu. Der Regen tropfte vom Verandadach. Die Nacht fiel herab, stickig und voller wachsamer Augen.
Irgendwo begann eine Altstimme kaum hörbar eine Hymne zu singen. Orry bedauerte, was er nun zu tun hatte, aber er konnte die Herausforderung nicht auf sich beruhen lassen, nicht bei so vielen Zuschauern. Er klopfte ein zweitesmal kräftig.
Keine Antwort.
Er hämmerte gegen die Tür. »Cuffey, mach auf!«
Quietschend öffnete sich die Tür einen Spalt. Mit seinem schlammbedeckten Stiefel trat Orry dagegen. Cuffey mußte zur Seite springen, um nicht getroffen zu werden.
»Hör mir zu«, sagte Orry. »Es tut mir aufrichtig leid, daß deine Tochter gestorben ist, aber deswegen lasse ich nicht zu, daß du dich mir widersetzt. Jawohl, wäre ich hier gewesen, ich hätte augenblicklich den Ausweis geschrieben oder selbst den Doktor geholt. Aber ich war nicht hier, und ich konnte von dem Notfall nichts wissen. Wenn du deines Postens nicht enthoben werden willst, halte deine Zunge im Zaum und knall mir nie wieder eine Tür vor der Nase zu.«
Schweigen, angefüllt mit dem Rauschen des Regens. Orry packte den Türrahmen. »Hast du mich verstanden?«
»Jawohl, Sir.«
Zwei leblose Worte. Im schwachen Schein der Hauslampe erkannte Orry die vor Wut funkelnden Augen Cuffeys. Er hegte den Verdacht, daß seine Warnung verschwendet war; er konnte nur hoffen, daß Cuffey bald wieder zur Vernunft kommen würde.
»Richte deiner Frau mein Beileid aus. Gute Nacht.« Er stampfte von der Veranda, traurig über den Tod des Kindes, ärgerlich über Cuffeys Auslegung, mit Schuldgefühlen beladen wegen seines Auftritts vor dem unsichtbaren Publikum. Die Rolle lag ihm nicht, aber er mußte sie spielen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Cooper hatte einmal bemerkt, daß sowohl die Herren als auch Sklaven Opfer der gleichen seltsamen Institution seien. In dieser schrecklichen Nacht verstand Orry, wie er das gemeint hatte.
Und das war der Anfang, dachte er, den sanften Druck von Madelines Schenkel neben sich spürend. Damit wurde die erste Karte aus dem Kartenhaus gerissen. Das hat die anderen ins Rutschen gebracht.
Vier Tage nach der Konfrontation bei der Hütte kam Anne. Cuffeys Frau, in der Dämmerung in sein Büro. Unter einem Auge zeigte sich eine häßliche Schwellung, und die braune Haut darum herum färbte sich schwarz. Zögernd brachte sie ihre Bitte vor: »Bitte, Sir, verkaufen Sie mich.«
»Anne, du bist hier geboren. Ebenso deine Mutter und dein Vater. Ich weiß, der Verlust von Rissa hat – «
»Verkaufen Sie mich, Mr. Orry«, unterbrach sie ihn aufweinend und ergriff sein rechtes Handgelenk. »Ich hab’ solche Angst vor Cuffey, ich möcht’ sterben.«
»Hat er dich geschlagen? Ich bin sicher, er ist nicht er selbst. Rissa – «
»Rissa hat nichts zu tun damit. Er schlägt mich immer. Macht er seit Heirat. Ich hab’ Ihnen nicht gesagt, aber Leute wissen Bescheid. Letzte Nacht hat er mich mit Stock und Faust geschlagen, dann hat er mich mit Pfanne geschlagen.«
Knapp eins neunzig groß, so ragte der weiße Mann über dem zerbrechlichen schwarzen Mädchen auf und schien vor Ärger noch größer zu werden. »Ich bin weggerannt, hab’ mich versteckt«, sagte sie, immer noch weinend. »Er hätte mir Schädel eingeschlagen, so verrückt wütend war er. Ich hab’ versucht zu ertragen wie eine gute Frau, aber ich hab’ zuviel Angst. Ich möchte hier weg.«
Ihre Augen bettelten weiter, nachdem sie ihre traurige Geschichte beendet hatte. Sie war eine gute Arbeiterin, aber er konnte nicht zusehen, wie sie kaputtgemacht wurde. »Wenn das dein Wunsch ist, Anne, dann werde ich ihn erfüllen.«
Annes Gesicht leuchtete auf, als sie ausrief: »Sie schicken mich zum Markt nach Charleston?«
»Dich verkaufen? Auf keinen Fall. Aber ich kenne eine Familie in der Stadt, gute, freundliche Leute, die letzten Herbst ihr Hausmädchen verloren haben und sich kein anderes leisten können. Nächste oder übernächste Woche werde ich dich einfach zu ihnen bringen.«
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