»Weil es unklug wäre, wenn du bleibst.«
»Tausende von anderen Frauen bleiben in Richmond«, unterbrach sie ihn. »Das ist nicht der Grund – du hast mich beschützt, und dafür liebe ich dich mehr denn je.« Staub wirbelte um sie herum. »Deine Vorgesetzten glauben Ashtons Anschuldigung. Mach dir nicht die Mühe, es zu leugnen; ich weiß, daß es so ist. Ein Beamter des Kriegsministeriums mit einer Negerin verheiratet – das ist unerträglich. Also muß man mich loswerden. Ich bin über meine Abreise nicht besonders traurig, außer daß ich dich ganz schrecklich vermissen werde.«
Sie gab ihm einen schnellen, innigen Kuß. Die Wolken öffneten ihre Schleusen, der Regen fiel schwer und heftig. Groß und düster funkelte er sie an. »Wer hat es dir erzählt?«
»Mr. Benjamin, als ich ihn vorgestern zufällig auf der Main Street traf.«
»Dieser schmierige, ehrlose – «
»Er sagte kein Wort, Orry.«
»Aber wie –?«
»Er schnitt mich vollkommen. Sah mich kommen und überquerte schnell die Straße, um mir auszuweichen. Ganz plötzlich begriff ich alles.«
Von Zorn und Kummer geschüttelt, schlang er die Arme um sie. »Gott, wie ich diesen verfluchten Krieg hasse und alles, was er uns angetan hat.«
»Laß ihn uns nicht noch Schlimmeres antun. Opfere ihm nicht noch dein Leben.«
»Ich werde vorsichtig sein. Du auch – versprichst du mir das?«
»Natürlich.«
Er umarmte sie und küßte sie fast eine halbe Minute lang voller Leidenschaft. »Ich liebe dich, meine Madeline.«
»Ich liebe dich, Orry. Wir werden es schaffen.«
»Da bin ich ganz sicher«, sagte er und lächelte zum erstenmal.
Sie blieb auf der Veranda stehen, bis der Einspänner im strömenden Regen auf der Straße nicht mehr zu sehen war.
Orry saß gerade seit zehn Minuten an seinem Schreibtisch, als ein Geräusch ihn aufblicken ließ. Josea Pilbeam kam auf ihn zugehinkt und flüsterte: »Ich muß Sie sprechen. Sofort. Es ist dringend.«
Nach dem Sturm war es dunkel und feucht im Treppenhaus. Pilbeam sagte: »Gestern verließen die Lady und ihr Gatte die Stadt für fast vier Stunden.«
»Wohin sind sie gegangen?«
»Zu der Örtlichkeit, die Sie mir beschrieben haben. Sie besprachen sich mit einem schwergewichtigen Mann, den ich noch nie gesehen habe.«
Sie benützten wieder die Farm. Seine Geduld hatte sich ausgezahlt. Er würde Seddon, Benjamin und der ganzen Bande zeigen, daß er kein Spinner war. Aufgeregt fragte er: »Haben Sie den Nachnamen des Mannes gehört?«
Pilbeam schüttelte den Kopf. »Keiner erwähnte ihn, solange ich lauschte.«
»Wo genau haben sie sich getroffen?«
»In dem Gebäude rechts am Rande der Klippe. Nach ungefähr einer Viertelstunde kam noch jemand dazu, den ich erkannte. Er ist oft genug in unserem Büro gewesen.«
»Wer war es?«
Die Marmorwände und Stufen schienen zu grollen und zu zittern, als Pilbeam sagte: »Winders Totschläger. Israel Quincy.«
110
So furchtbar einfach, dachte Orry, während er durch das Feld schlich, dem gleichen Weg folgend, den er beim erstenmal eingeschlagen hatte. Der Detektiv aus Winders Büro hatte keinen Beweis für eine Verschwörung gefunden, weil er selbst daran beteiligt war.
Der Abend war sehr still, kein Mond schien. Die Feuchtigkeit hing schwer in Orrys Kleidung; sein Hemd war bereits schweißgetränkt. Der Boden um ihn herum war erst kürzlich umgegraben und zertrampelt worden. Er erinnerte sich, daß bei seinem ersten Besuch das Feld unkrautbewachsen gewesen war. Dann war er ein zweitesmal hinausgeritten und hatte bemerkt –
Was? Er trieb seinen müden Geist voran, während er durch seine tropfende Nase mühsam Luft holte. Die Erkältung, die er sich auf der Rückfahrt von Barclays Farm geholt hatte, war schlimmer geworden. Er unterdrückte ein Niesen. Ganz deutlich erinnerte er sich an gepflügte Erde bei seinem zweiten Besuch. Merkwürdig, daß jemand das Feld einer verlassenen Farm bearbeitete.
Dumm. Dumm! Wieder so offensichtlich, und wieder war es ihm nicht aufgefallen. Er wußte, wohin die Whitworth-Gewehre und die Munition verschwunden waren. Sie waren direkt vor jedermanns Nase versteckt worden.
»Unter jedermanns Füßen«, korrigierte er sich flüsternd. Der Trick stammte geradewegs aus Poes berühmter Detektivgeschichte vom gestohlenen Brief. Als Poe-Anhänger fühlte er sich doppelt gedemütigt. Und ich möchte wetten, Mr. Quincy übernahm es, diesen Teil der Farm zu untersuchen. Mr. Quincy schlenderte über das frisch gepflügte Feld und bemerkte nichts Ungewöhnliches.
Hatte auch Powell sich während der ganzen Zeit irgendwo auf dem Grundstück verborgen? Orry steckte sein Taschentuch weg und zog den Navy-Colt aus dem Halfter, den er sich ans linke Bein gebunden hatte. Er spannte den Hammer und schlich vorsichtig weiter.
Er näherte sich demselben erleuchteten Spalt. Nahe am Geräteschuppen entdeckte er einen Einspänner und zwei Sattelpferde beim Haupthaus. Er preßte seine Wange gegen das Holz und biß sich voller Zorn auf die Unterlippe. Auf einer der dreckverschmierten Whitworth-Kisten thronte James Huntoon.
Er hielt ein großes Blatt Papier an den Rändern; eine Art Plan oder Diagramm. Er hielt es schräg, legte es fast auf seinen Bauch, damit die anderen es sehen konnten.
»Dürfte ich um eure Aufmerksamkeit bitten?« sagte eine Stimme. »Das ist der Plan, den Mr. Powell entwickelte, bevor er für einige Tage abberufen wurde, um sich um andere Details unserer Kampagne zu kümmern.« Orry runzelte die Stirn; er konnte den Sprecher nicht sehen, aber die Stimme klang ungemein vertraut.
Er kniete nieder, veränderte seinen Blickwinkel. Mit einem Strohhalm zwischen den Zähnen sah er rechts neben Huntoon den freundlichen Mr. Quincy. Orry begann vor Wut zu kochen.
Die Stimme seiner Schwester: »Sind Sie sicher, daß es funktionieren wird, Captain Bellingham?«
Bellingham? Hatte er den Mann gefunden, der ihr das Gemälde gezeigt hatte?
»Meine liebe Mrs. Huntoon, Höllenmaschinen, die von General Rains vom Torpedo Bureau stammen, haben eine bemerkenswerte Erfolgsstatistik aufzuweisen.«
Ein korpulenter Mann watschelte in sein Blickfeld. Nur sein Rücken war sichtbar, aber seine Kopfform kam Orry ebenso quälend bekannt vor wie seine Stimme.
Und dann identifizierte Orry die Stimme. Das heißt, er gab ihr einen Namen, den richtigen Namen, obwohl er es kaum glauben konnte. Zu seinem kochenden Zorn kamen Erinnerungen, die bis zu seinem ersten Sommer an der Akademie zurückreichten.
Israel Quincy gab ein kicherndes Geräusch von sich. »Die Bombe kann einen wirklich zum Narren halten, Captain. Niemand könnte sie von einem Stück echter Kohle unterscheiden.«
»Bis sie losgeht.« Er reichte Quincy die Höllenmaschine, dessen Hände unter dem Gewicht nach unten sackten. »Untersuchen Sie den Guß. Die Form, die perfekte Färbung des Eisens – genial.«
In diesem Moment sah Orry das Profil des früheren Unionsoffiziers, der irgendwie in eine konföderierte Verschwörung verwickelt worden war. Es bestand kein Zweifel – er hatte Elkanah Bent vor sich, alias Bellingham.
Hätte Orry nicht Bent erkannt, dann wäre alles andere vielleicht nicht geschehen; vielleicht wäre er zurück nach Richmond geritten und hätte eine ganze Kompanie Männer geholt. Aber die lebenslange Vendetta gegen Elkanah Bent öffnete eine Schleuse in Orrys Kopf.
Drei Mann waren im Inneren, aber in seiner Geistesverfassung hätte es auch keine Rolle gespielt, wenn es dreißig gewesen wären. Er hastete um die Ecke des Gebäudes. Den Navy-Colt im Anschlag trat er die Tür mit dem Stiefel ein. »Keiner bewegt sich.«
Ashton schlug die Hände vor den Mund, Huntoon ließ das Diagramm fallen. Bents Gesicht war voller Verwirrung, die schnell in entsetztes Erkennen überging. »Orry Main –?«
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