Sie hatten fünf Boote verankert und zwei überplankt, als der Feind das Feuer eröffnete. Billy arbeitete am Ende der Brücke, die bald schon bis in die Mitte des Flusses ragte. Er hörte das Gewehrfeuer.
Eine Kugel klatschte rechts von ihm ins Wasser; eine andere traf das Pontonboot, über dem er kniete.
»Wenn ich nur mein verfluchtes Gewehr hätte«, sagte jemand.
»Spar dir den Atem«, sagte Billy. »Arbeite.«
Männer rannten mit Bohlen nach vorn. Ein Mann zuckte zusammen und kippte seitlich in den Rappahannock. Hände griffen nach ihm, zerrten den Verwundeten heraus. Nie war Billy Wasser so eisig erschienen. Lije rannte vor zur Brücke. »Mut, Jungs. Unsere Seele wartet auf den Herrn. Er ist unsere Hilfe und unser Schutz.«
Den Mann in Sicherheit bringend – Blut und Wasser strömten aus seinem Gesicht – drehte sich Billy herum und sagte: »Halt die Klappe, Lije. Der Herr, unser Schutz, hat dem Mann nicht geholfen, und Er wird auch uns nicht helfen, also halt die Klappe, ja?«
Der weißbärtige Mann schien zu schrumpfen. Ärger blitzte in seinen Augen auf, wurde schnell von Trauer verdrängt. Billy hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Über die schlüpfrige Brücke rannte er auf Lije zu und packte ihn am Arm.
»Ich hab’s nicht so gemeint. Tut mir unendlich leid, daß ich sowas gesagt – «
»Deckung«, brüllte Lije, als die Rebellen drüben eine Salve abfeuerten. Er gab Billy einen Stoß und warf sich über ihn.
Billys Kopf knallte gegen die Brücke. Er versuchte aufzustehen, aber zuviel drückte ihn nieder. Zuviel Krankheit, Müdigkeit, Verzweiflung. Beschämt, wie er war, ließ er sich in die tröstende Finsternis sinken.
Am gleichen Tag noch – dem 11. Dezember – lag Billy im Feldhospital in Falmouth. Dort erfuhr er, daß die Pioniere den ganzen Morgen unter ständigem Beschuß gearbeitet und gegen Mittag zwei von fünf geplanten Brücken über den Rappahannock beendet hatten.
Zu schwach, um den Dienst wieder aufzunehmen, verbrachte er den Samstag damit, der Kanonade zu lauschen. Am Sonntag besuchte ihn Lije und erkundigte sich nach seinem Befinden.
»Ich schäme mich, Lije. Ich schäme mich für das, was ich gesagt hab’ und wie ich’s gesagt hab’.«
»Nun, Sir«, erwiderte der Ältere etwas formell, »ich habe es mir eine Weile zu Herzen genommen.«
»Du hast mich vor einer Kugel gerettet.«
»Niemand ist vollkommen. Du warst krank, wir waren alle erschöpft, und die Situation war gefährlich. Wem kann man unter solchen Umständen ein grobes Wort übelnehmen?«
Sein Prophetengesicht wurde sanft. »Du wirst zweifellos die letzten Neuigkeiten hören wollen. Ich fürchte, deine düsteren Vorahnungen haben sich voll bestätigt. Selbst mein Vertrauen und mein Glaube werden durch die gestrigen Ereignisse aufs Äußerste beansprucht.«
Zwischen den Reihen der Kranken, Verwundeten und Sterbenden erzählte Lije seinem Freund, wie die Bundestruppen den Fluß überquert hatten und was ihnen dort zugestoßen war.
61
Am gleichen Samstagabend hielten drei Männer in Minister Stantons Büro eine Nachtwache ab.
Draußen trieb der Potomacnebel an den Fenstern vorbei. Stanley wünschte, die Nachtwache würde bald enden, damit er heimgehen, damit er die letzten Berichte von Lashbrooks durchsehen konnte; die gewaltigen Geschäfte hatten sich dank des geheimen, von Butler arrangierten Vertrages verdoppelt.
Major Albert Johnson, der arrogante junge Mann, der früher Stantons Kanzleiangestellter gewesen und nun zu dessen vertrauenswürdigstem Gehilfen geworden war, marschierte im Büro auf und ab. Der Präsident lag auf der Couch, wo er den größten Teil des Tages zugebracht hatte. Sein altmodischer Anzug war zerknittert. Seine Augen, auf irgendeinen Punkt auf dem Teppich gerichtet, paßten zu einem Trauernden. Seine Gesichtsfarbe ließ auf Gelbsucht schließen.
Lincoln hatte ihnen verärgert mitgeteilt, daß ein Mr. Villard, Korrespondent von Greeleys Tribüne, am Samstag von der Front zurückgekehrt und um zehn Uhr abends ins Regierungsgebäude gebracht worden war. Dort hatte er berichtet, was er wußte, und gegen die Weigerung des Militärzensors protestiert, seine Meldung über den vergeblichen Angriff von Burnside auf Fredericksburg durchzugeben. »Ich bot ihm eine Entschuldigung an und sagte, die Nachrichten würden hoffentlich nicht so schlimm sein, wie es ihm erschienen war.«
Keiner von ihnen wußte etwas Genaues. Der Minister kontrollierte, was veröffentlicht wurde – die Militärzensoren waren ihm unterstellt und außerdem kontrollierte er den Telegraphen von der Front. Nichts gelangte nach Washington, ohne daß Stanton zuerst davon erfuhr. Er behandelte Lincoln nun als guten Freund, obwohl er die Beziehung so manipuliert hatte, daß der Präsident der abhängige und nicht der dominierende Partner war.
Die Tür zum Chiffre-Raum öffnete sich. Johnson hielt inne. Stanley sprang auf. Stanton tauchte mit ein paar dünnen gelben Blättern auf – dechiffrierten Kopien von Frontmeldungen. Der Minister roch nach Kölnischwasser und kräftiger Seife, was bedeutete, daß er heute einen öffentlichen Auftritt gehabt hatte. Stanton pflegte sich nach jedem Kontakt mit der Öffentlichkeit zu schrubben und zu salben.
»Wie sind die Nachrichten?« fragte Lincoln.
Das Gaslicht verwandelte die Gläser von Stantons Brille in schimmernde Spiegel. »Nicht gut.«
»Ich wollte die Nachrichten haben, keine Beschreibung von ihnen.« Die Stimme des Präsidenten war rauh vor Müdigkeit.
Stanton bog die Ecken der ersten beiden Blätter um. »Bedauerlicherweise scheint der junge Villard recht zu haben. Es hat wiederholte Angriffe in der Stadt gegeben.«
»Was war das Ziel?«
»Marye’s Heights. Eine so gut wie uneinnehmbare Stellung.«
Lincoln starrte ihn mit diesem hoffnungslosen Gesicht an. »Sind wir geschlagen?«
Stanton wich dem Blick nicht aus. »Jawohl, Herr Präsident.«
Langsam, als würde er unter Arthritis leiden, setzte sich Lincoln auf. Stanley hörte ein Kniegelenk knirschen. Stanton reichte ihm die Kopien und fuhr ruhig fort: »Eine Meldung, die gerade kopiert wird, deutet darauf hin, daß General Burnside heute morgen erneut die Rebellenstellungen angreifen wollte. Seine Offiziere haben ihn von diesem unbesonnenen Vorgehen abgebracht.«
Lincoln blätterte die Kopien durch und warf sie dann auf die Couch. »Zuerst hatte ich einen General, der die Potomac-Armee als seine Leibwache beschäftigte. Jetzt habe ich einen, der eine Niederlage damit feiert, daß er die nächste anstrebt.« Kopfschüttelnd ging er zum Fenster und spähte hinaus in den Nebel, als wären dort alle Antworten zu finden.
Stanton räusperte sich. Nach einem angespannten Schweigen drehte sich Lincoln um. Sein Gesicht war voll gekränkter Wut. »Ich nehme an, die Dampfer werden uns bald noch mehr Verwundete bringen?«
»Das haben sie bereits, Herr Präsident. Das erste Schiff vom Aquia Creek hat letzte Nacht angelegt.«
»Vermutlich sind die Zahlen hoch und die Verluste schwer?«
»Jawohl, Sir, die ersten Berichte deuten daraufhin.«
Bleicher denn je wandte sich der Präsident erneut dem Fenster zu und starrte in die Nacht hinaus. »Stanton, ich habe es zuvor schon gesagt. Wenn es einen schlimmeren Ort als die Hölle gibt, dann bin ich dort.«
»Wir teilen dieses Gefühl, Herr Präsident.«
Stanley achtete darauf, ein entsprechend sorgenvolles Gesicht zu machen.
Ferne Schreie weckten Virgilia am Dienstagmorgen. Sie wandte den Kopf dem kleinen Fenster zu. Schwarz. Noch kein Tageslicht.
Die Scheibe war nicht zerbrochen, eine Seltenheit in dem alten Union-Hotel. Neue Hospitäler – Pavillons nach dem Nightingale-Plan befanden sich im Bau, in einer Größenordnung von fünfzehntausend Betten. Das Geld dafür war im Juli letzten Jahres bewilligt worden. Bis zur Beendigung der Bauarbeiten mußten jedoch alle möglichen ungeeigneten Gebäude als Ersatz herhalten, angefangen von öffentlichen Bauten und Kirchen bis zu Lager- und Privathäusern – vor allem in diesem trostlosen Dezember, der durch Burnsides stümperhaftes Verhalten über zwölftausend Opfer gebracht hatte.
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