«Sie hat einen anderen, nicht wahr?«Fritz Adam krallte die Finger um den Bettpfosten.»Irene hat einen anderen Mann. Sie hat es Ihnen gesagt, Frau Doktor, nicht wahr? Sie können es mir ruhig verraten. Nach all dem, was Sie schon gesagt haben.«
Lisa schüttelte den Kopf. Der Junge tat ihr leid, unendlich leid. Aber sie sah keinen anderen Weg, sie mußte ihn durch diese Hölle jagen, um ihm ein neues Leben zu eröffnen.
«Ich weiß es nicht«, sagte sie.»Aber ich glaube es fast.«
«Ich bringe sie um!«schrie Adam grell.
«Und was hättest du davon?«Lisa griff in die Tasche ihres weißen Mantels und holte einen Spiegel hervor.»Wird dein Gesicht davon anders? Komm, sieh es dir an! Ich weiß, du siehst es täglich beim Rasieren der wenigen Stellen, auf denen dein Bart noch wächst. Aber trotzdem: Guck hinein! Das ist der neue Fritz Adam!«Sie hielt ihm den Spiegel vor das Gesicht.»Los, sieh dich an!«befahl sie laut, als Adam dem Spiegelbild auswich.»Das ist Fritz Adam! Der andere Fritz Adam, der mit der Irene Puppenfee verheiratet war, ist in einem glühenden Panzer auf Rußlands Steppen geblieben. Für diesen neuen Fritz Adam mußt du leben. Und für den lohnt es sich auch zu leben. Er hat die Zukunft vor sich. Er ist ein neuer Mensch. Ein Mensch ohne Vergangenheit. Sieh ihn dir genau an, Fritz Adam: für diesen Menschen gibt es keine Irene mehr — sie paßt einfach nicht zu ihm!«
Fritz Adam starrte sein verschrumpeltes Gesicht an. Dann warf er plötzlich die Hände nach vorn, riß den Spiegel aus Lisas Hand und schleuderte ihn mit einem Aufschrei auf den Boden.
«Gut so!«sagte Lisa ruhig.»Tob dich aus, mein Junge! Das befreit von den letzten Schlacken. Aber vergiß nicht, daß morgen auch noch ein Tag ist!«
Sie stand auf und verließ, ohne sich umzublicken, das Zimmer B 14. Als sie die Tür schloß, hörte sie, wie Fritz Adam aufheulte wie ein getretener Hund.
Auf dem Flur traf Lisa Mainetti die kleine Schwester Dora Graff. Sie kam von der Weihnachtsfeier im großen Saal. Der Neueingang, der einäugige Leutnant Rudolf Fischer, war erwacht. Sie war zu ihm gegangen und hatte ihm eine neue Beruhigungsinjektion gegeben.
«Dora, Sie können mir einen Gefallen tun«, sagte Dr. Mainetti nachdenklich und blickte auf die Tür von Zimmer 14.»Warten Sie hier zehn Minuten, und gehen Sie dann ins Zimmer. Da drinnen ist ein Mann, der dringend einer weiblichen Hand bedarf. Aber sie muß jünger sein als meine. Ich werde Sie unterdessen bei der Weihnachtsfeier vertreten.«
Im großen Saal hatte die Bescherung begonnen.
Was die Verwundeten gebastelt hatten, wurde an die Waisenkinder verteilt. Als Dank sagten sie Gedichte auf oder machten auch nur einen verlegenen Diener oder Knicks. Der Kreisleiter hatte seinen Schwächeanfall überwunden. Er ließ von zwei Propagandafotografen Aufnahmen machen und untermalte die Bescherung mit markigen Worten wie» Front und Heimat bilden einen Block «oder» Wo die Waffen schweigen, sprechen die Herzen«. Niemand hörte ihm zu, er stand im Wege, wurde herumgeschubst, und der Wastl Feininger, der das Modell einer Sägemühle gebastelt hatte und sie einem Waisenjungen vorführte, trat ihm auf den Fuß und sagte:»Ruck a weng, i muaß dös Mühlradi klappern lassen.«
In der letzten Stuhlreihe saß Walter Hertz. Man hatte seinen großen Rundstiellappen mit Mull überdeckt und mit Leukoplast ver-pflastert. So sah er aus wie ein Mann, der einen Ziegenpeter hatte, nur einen nach oben verrutschten. Das Gesicht war völlig schief. Neben ihm saß ein junges Mädchen in BdM-Uniform. Eine grüne Kordel an der Bluse zeigte, daß sie sogar eine Führerin war. Sie saß neben dem schiefen Gesicht, ein wenig gedrückt und fast ängstlich. Ihre Aufgabe, den ihr zugewiesenen Verwundeten zu betreuen, hatte sie erfüllt. Nun hatte sie nichts mehr zu sagen und wußte nicht, wie es weitergehen sollte mit der Betreuung.
Es hieß, nach der offiziellen Weihnachtsfeier solle getanzt werden. Zwei Akkordeons standen in der Ecke neben der Hitlerbüste. Das Mädchen sah sich verstohlen um. Tanzen, dachte sie. Diese armen Menschen wollen tanzen? Ich glaube, man muß die Augen dabei zumachen.
Walter Hertz, neben ihr auf den Stuhl geklemmt, die Hände zwischen die Knie gepreßt, suchte ebenfalls nach Worten. Was sagt man zu einem jungen Mädchen, dachte er verzweifelt. Natürlich, was man so sagt, das wußte er. Aber es waren alles Worte eines normal aussehenden Menschen. Fräulein, können wir uns irgendwo treffen, wo nicht soviel um uns herum sind. Wie wär's mit einem Kinobesuch? Oder: Ich weiß, wo noch eine tolle Kapelle spielt, da könnten wir mal eine Sohle hinlegen. Alles Worte und Wünsche von Menschen mit Gesichtern. Was aber sagt ein Mann, der kein Gesicht mehr hat?
Seine Hemmung war so groß, daß er stocksteif neben dem Mädchen saß und unverwandt die Führerbüste anstarrte. Da er auch nichts gebastelt hatte, weil er handwerklich eine Niete war, konnte er nicht an der allgemeinen Bescherung teilnehmen. So saß er, plötzlich schwitzend vor Verlegenheit, auf seinem Stuhl und kaute auf der Unterlippe.
Wie eine Erlösung kam ihm ein Gedanke. Er wandte den schiefen Kopf zu dem Mädchen und berührte sie leicht am Arm. Das Mädchen zuckte zusammen und sah ihn an.
«Ich habe noch gar nicht gefragt, wie Sie heißen«, sagte er.»Sie haben mir so viel Freude gemacht.«
«Ich heiße Petra Wolfach.«
«Petra — ein schöner Name. Ich heiße Walter Hertz.«
«Herz! Wie lustig. Richtig wie Herz?«
«Nein. Mit tz. Wie der Physiker Heinrich Hertz, der Entdecker der elektromagnetischen Wellen. Nach ihm sind die Einheiten der Frequenzen benannt worden. Hertz, Kilohertz und so weiter.«
«Wie interessant«, sagte Petra Wolfach.
Das Gespräch versickerte wieder. Walter Hertz mit tz kaute weiter auf der Unterlippe. Sicherlich versteht sie nichts von Physik, dachte er. Dumm von mir. Man sollte Herz wie Herz heißen, ohne tz. Dann wäre es leichter, ein Gespräch zu beginnen. Er räusperte sich und berührte Petra wieder am Arm.
«Fräulein Wolfach«, sagte er unsicher.»Es ist nicht meine Schuld, das mit dem tz. Aber trotzdem habe ich ein Herz ohne tz! Und dieses Herz sagt mir, daß es schön wäre, wenn wir mal zusammen ins Kino gehen könnten. Unten spielen sie gerade >Die große Liebe< mit Zarah Leander. Ein paar von meinen Kameraden waren drin. Sie waren hell begeistert.«
Petra Wolfach sah den Mann mit dem schiefen Gesicht lächelnd an. Wie nett und wie unbeholfen er spricht, dachte sie. Wie alt mag er sein? Bei keinem von ihnen kann man es mehr schätzen. Ihre Gesichter haben die Sprache verloren. Sie sehen alle gleich alt aus — so, als seien sie gerade von Gott geschaffen worden und noch nicht fertig. Gesichter aus einer Arbeitspause der Schöpfung.
«Das könnte man machen«, sagte sie und nickte ein paarmal.»Be-kommen Sie denn Urlaub?«
«Wenn ich mit der Frau Doktor spreche. «In Walter Hertz glomm ein Glücksgefühl auf und setzte sich in seiner Kehle als harter Kloß fest.»Dr. Mainetti ist eine tolle Frau. Wenn wir die nicht hätten.«
«Und Sie glauben, daß sie es tut?«
«Bestimmt. Geht es am nächsten Donnerstag?«
Petra Wolfach zögerte einen Augenblick. Ins Kino, dachte sie. Was werden meine Freundinnen sagen, wenn ich mit ihm ausgehe? Was werden die Leute denken? Man wird uns nachsehen und die Köpfe zusammenstecken. Wie kommt die Petra an einen solchen Mann? Ein Mann ohne Gesicht. Und was wird Vater sagen?
«Ja!«sagte sie fest, um sich selbst von der Richtigkeit ihres Entschlusses zu überzeugen.»Ja. Es geht.«
«Wir treffen uns vor dem Kino. Um halb acht?«
Petra nickte. Im Kino war es dunkel. Da sieht man sie nicht. Und was nach dem Kino sein würde, das mußte man abwarten. Vielleicht konnte man sitzenbleiben, bis alle das Kino verlassen hatten, und als letzte gehen?
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