Lisa Mainetti sah mit vorgewölbter Unterlippe auf die braune Gestalt hinab.
«Frohe Weihnachten!«sagte sie laut. Dann verließ sie stumm den OP.
Während im großen Gemeinschaftssaal die Weihnachtsfeier der Partei abrollte — der Kreisleiter stand vor der Führerbüste auf dem Rednerpult und sprach einige Worte über stilles Heldentum und Vaterlandsliebe, und es war, als würge er Klöße heraus, die in seiner Kehle versteinert waren —, saß Lisa Mainetti auf dem Bett Fritz Adams. Das Zimmer B 14 war leer. Alle Verwundeten saßen unten im Saal, neben ihren Frauen und Müttern und Vätern oder neben den BdM-Mädchen, die die Betreuung alleinstehender Verwundeter übernommen hatten. Der Chor der Waisenkinder sang die alten Weihnachtslieder, der große Tannenbaum funkelte mit seinen Kerzen und seinen aus Stanniol gebastelten Behängen, ein Streichquartett gesichtsverletzter Musiker spielte Stücke von Telemann, Bach und Schütz, die ein ebenfalls verwundeter Kapellmeister für Streicher umgeschrieben hatte. Die Bratsche spielte ein Blinder, ein Granatsplitter hatte ihm beide Augen und einen Teil des Stirnbeins abgesägt. Er spielte aus dem Gehör, sein Kopf nickte leicht, wenn er die Takte zählte, und ein glückliches, weit entrücktes Lächeln spielte um seinen Mund, wenn er die Einsätze fehlerlos fand und der Klang seines ausgezeichneten Instrumentes unter seinen tastenden Händen wundersam und singend aufblühte. >Lobe den Herren<, spielten sie, und die Mütter, Frauen und Väter hatten ihre Hände in die Hände der Verwundeten gelegt, als beteten sie gemeinsam in dieser stillen Stunde. Sogar der Wastl Feininger hatte den Kopf gesenkt und hielt die Hand seiner Frau umklammert.
Oben, auf Zimmer 14, lag Fritz Adam mit dem Gesicht zur Wand und weinte.
Lisa hatte ihn so angetroffen, als sie, ohne anzuklopfen, in den Raum gekommen war. Sie sah, daß sie nicht viel zu sprechen brauchte. Daß Irene nicht wiedergekommen war, hatte Fritz Adam genug gesagt. Er war mit der gleichen Heftigkeit zusammengebrochen, mit der er sich vorher auf das Wiedersehen mit seiner hübschen, jungen Frau gefreut hatte.
Nun saß Lisa Mainetti neben ihm, die Hände in den Schoß gelegt, und wartete darauf, daß sich der erste Schmerz mit den Tränen auflöste und wegfloß. Als Adam stiller wurde, legte sie ihm beide Hände auf die zerwühlten Haare.
«Ich habe mit ihr gesprochen«, sagte sie,»und daß sie nicht wiedergekommen ist, daran bin ich schuld.«
«Sie?«Fritz Adam warf sich herum. Sein Gesicht, das wie ein Bratapfel aussah, verzerrte sich noch mehr.»Aber wieso denn, Frau Doktor? Was… was ist denn passiert?«
«Ich habe Ihre blonde Puppe hinausgeworfen!«sagte sie ganz ruhig.»Jawoll, Sie hören richtig: hinausgefeuert habe ich sie. Nur, weil ich sie nicht anfassen wollte, habe ich ihr keinen Tritt in den Hintern dazu gegeben.«
«Aber Frau Doktor«, stotterte Fritz Adam. Seine Augen waren starr, und die Lippen, die erst wieder halb mit Lippenrot bedeckt waren, zitterten wie in einem Krampf.»Sie… sie war doch nur entsetzt. Das ist doch ihr gutes Recht. Sie war immer so zart, so ängstlich, so leicht erschrocken. Man muß ihr Zeit lassen. Und nun tun Sie selbst. «Fritz Adam sprang auf und riß seinen Uniformrock aus dem Kleiderspind.»Wo ist sie jetzt? Ich gehe zu ihr! Sofort! Sie werden se-hen, sie hat es gar nicht so gemeint! Ich weiß doch, daß sie mich liebt! Sie hat es mir doch noch vor drei Stunden gesagt.«
Dr. Mainetti hielt Adam am Rockärmel zurück und zog ihn zum Bett.
«Setz dich«, sagte sie.
«Ich muß zu ihr!«
«Setz dich!«schrie Lisa. Fritz Adam zuckte zusammen und setzte sich auf die Kante seines Bettes. Sein Gesicht war ein einziges nervöses Zucken. Stumm, voller Abwehr, starrte er vor sich hin.
«Du gehst nicht zu ihr!«sagte Lisa.
«Doch! Ich liebe sie. Mein Leben hat keinen Sinn mehr, wenn Irene.«
«Keinen Sinn mehr! Wie die kleinen Kinder reden die Männer, wenn sie einen Rock in der Hand fühlen! Mensch, Fritz Adam — besteht denn die Welt nur aus dieser Irene?«
«Meine Welt — ja.«
«Und sie ist einfach nicht mehr da, wenn auch Irene nicht mehr da ist, was? So einfach ist das! Weib weg, Leben weg! Man sollte euch durchprügeln, euch Mannsbilder! Hat dich das Schicksal nur dafür vor dem Tode bewahrt, daß du jetzt alles wegwirfst? Haben wir in zwei Jahren nur darum Stück für Stück deines Gesichtes wiederhergestellt, damit du jetzt sagst: Ohne dieses Weib will ich nicht mehr! Ich haue ab aus dieser Welt! Ist denn der ganze Sinn des Lebens nur diese eine Frau, dieses Modepüppchen, dieses Betthäschen, das nichts als schnurren kann, wenn man es krault, und das wegläuft, wenn ein rauhes Lüftchen weht? Gibt es nicht Tausende von Frauen, die hundertmal wertvoller sind als diese kleine, dumme Hure?«
«Frau Doktor!«Fritz Adam sprang auf. Er hatte die Fäuste geballt, als wollte er Lisa Mainetti ins Gesicht schlagen.»Auch von Ihnen lasse ich meine Frau.«
«Deine Frau!«schrie Dr. Mainetti.»Als ich hierherkam, wollte ich behutsam mit dir sprechen, so wie man zu einem Kranken spricht. Aber ich sehe, daß es sinnlos ist. Du liebst diese Frau, und diese Liebe ist ein Gift, das man nur mit einem Gegengift ausräuchern kann! Jetzt hör einmal zu, du großer, dummer Junge, du Riesenschaf. «Lisa zog Fritz Adam zurück zum Bett und drückte ihn auf die Matratze. Sie sah in seinen Augen ein Flackern und eine panische Angst vor dem, was ihn erwartete. Sie biß einen Augenblick die Zähne aufeinander. Es geht nicht anders, dachte sie. Hier hilft nur ein neuer Schock. Er liebt diese Irene so sehr, daß er ihr alles verzeihen würde. Vielleicht sogar das, was sich da draußen zwischen ihr und Dr. Urban tut. Er ist vernarrt in diese weißblonde Larve, in diesen schlanken, biegsamen Körper, in diese wiegenden Hüften, in die schlanken Beine. Es ist wie ein Wahnsinn in ihm, und solange er davon nicht geheilt ist, wird er nie zurückfinden in das Leben, das so grausam, so mitleidlos, so vergeßlich und so brutal ist.
«Du bist doch ein kluger Mensch«, sagte Lisa Mainetti.»Du hast dein Abitur gemacht, du hast begonnen, Medizin zu studieren. Und dann lernst du diese Puppe kennen und heiratest sie einfach, anständig, wie du bist. Dann kommst du gleich darauf weg, an die Front, und nun bist du wieder da und siehst nicht mehr aus wie der Fritz Adam, der einmal die schöne Irene geheiratet hat. Und diese Irene kommt nun zu mir und sagt: Ich habe einmal einen schönen Mann geheiratet, und wie sieht er jetzt aus? Alles, was ich einmal an ihm liebte, ist weg! Keiner kann es mir zumuten, daß ich mein ganzes Leben.«
«Nein!«schrie Fritz Adam. Er preßte die Fäuste auf seine Ohren.»Nein! Nein!! Das hat sie nicht gesagt. Das kann Irene gar nicht sagen… das.«
Dr. Mainetti riß ihm die Hände mit einem Ruck von den Ohren.»Hör mir zu!«sagte sie hart.»Warum, glaubst du, habe ich sie hinausgeworfen wie eine Nutte, die ihre Zimmermiete nicht bezahlt hat? Glaubst du, ich würde eine Frau so behandeln, wenn ich auch nur den leisesten Funken Hoffnung hätte, daß noch etwas zu retten ist? Ich war euch immer mehr als eure Ärztin, das wißt ihr alle. Ich war eure Freundin, euer Beichtvater, eure Mutter, wenn es nötig war. Ich habe mit euch gelitten und habe mich mit euch gefreut, und alles, was ihr hier in diesem Lazarett erlebt habt, habe ich miterlebt! Glaubst du Hornvieh wirklich, ich würde mich so benehmen, wenn ich keinen Grund hätte?«
Fritz Adam starrte sie aus seinem Bratapfelgesicht mit flatternden Augen an.
«Irene hat.«, stammelte er.»Frau Doktor… das ist doch gar nicht möglich. Sie hat doch noch vor drei Stunden gesagt, daß sie mich liebt! Frau Doktor. das kann doch nicht sein. Warum hat sie denn.«
«Weil sie ein Charakterschwein ist!«sagte Lisa laut.»So nun weißt du's!«Sie drückte ihn an den Schultern aufs Bett zurück, als er wieder aufspringen wollte.»Vorhin, als ich 'reinkam, hast du geheult wie ein kleines Kind. Da hast du geglaubt, daß sie nicht wiederkommt. Jetzt willst du's plötzlich nicht mehr glauben? Warum denn? Es ist besser, unter großen Schmerzen einen Wahn aus seinem Herzen zu reißen, als immer mit einem Selbstbetrug herumzulaufen und an ihm langsam, aber sicher zugrunde zu gehen! Komm, leg dich wieder hin, heul wieder, beiß in die Kissen, schrei gegen die Wand, trommle mit den Fäusten gegen das Bett, tu irgend etwas, was dich befreit! Aber glaub es endlich und reiß dich selbst über diesen Schmerz hinweg! Es wird einmal die Zeit kommen, wo du für diese Stunde unendlich dankbar sein wirst. Und es wird gar nicht lange dauern.«
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